Die Umsetzung der Proberichterstandards beim AG Mitte und am LG Berlin II

Wir haben nachgefragt, wie die neu vereinbarten Proberichterstandards jeweils umgesetzt werden sollen.

Frau Dr. Masuhr, Sie sind im Richterrat des Amtsgerichts Mitte. Wie nehmen Sie die Reaktionen unter den Kolleg:innen auf die vereinbarten Proberichterstandards wahr?

Nach meinem Eindruck sehen viele Kolleg:innen die grundsätzliche Notwendigkeit, den Einstieg in die Justiz für Proberichter und Proberichterinnen attraktiver zu machen. Die engmaschige Betreuung in den ersten zwei Wochen und ein Mentoring halten viele Kolleginnen und Kollegen für sinnvoll.

Wesentlich kritischer sind die Reaktionen auf die geplante Entlastung um die Hälfte des jeweiligen Pensums in den ersten drei Monaten. Zwar halten es einige Kollegen grundsätzlich für einen richtigen Schritt, Proberichter:innen im ersten Jahr gerade in den ersten Wochen in einer gewissen Form zu entlasten. Jedoch begegnet die vom Kammergericht nun vorgesehene Entlastung im gesamten Kollegium erheblicher Kritik:

Zum einen stellt sich die Frage, inwieweit die geplante Entlastung in den ersten drei Monaten tatsächlich eine Hilfe ist. Sie erleichtert zwar zunächst den Einstieg. Die doppelte Belastung ab dem vierten Monat dürfte allerdings nicht unerheblich sein. Wenn man in der Vergangenheit nach drei bis vier Monaten eine gewisse Erleichterung verspürt hat, werden Proberichter:innen im ersten Jahr nun nach vier Monaten möglicherweise das Gefühl eines Rückschritts haben, weil sie plötzlich viel mehr Arbeit auf einmal bewältigen müssen.

Zum anderen bedeuten die neuen Proberichterstandards eine höhere Belastung aller anderen Richter:innen; irgendwer muss die Entlastung schließlich tragen und das Mentoring bzw. die Betreuung leisten. Gerade dienstältere Kolleg:innen haben zu Zeiten in der Justiz angefangen, als es vollkommen selbstverständlich war, Proberichtern „abgesoffene“ Dezernate zuzuweisen. Und jetzt sollen sie die Dienstjüngeren entlasten. Die zeitweise Mehrbelastung trifft bei uns im Gericht außerdem ab dem kommenden Jahr auf zahlreiche Weggänge. Dies wird vermutlich zusätzlich zu Mehrbelastung führen, wenn nicht alle Kolleg:innen ersetzt werden.

Es ist zudem überwiegend der Eindruck entstanden, dass das Kammergericht faktisch Maßnahmen vorgibt, die zu einer Mehrbelastung der Kolleginnen und Kollegen führen, ohne selbst hiervon betroffen zu sein und ohne die praktische Umsetzung mitbedacht zu haben. Die Umsetzung stellt die Gerichte vor erhebliche Herausforderungen.

Wie werden Proberichter:innen am Amtsgericht Mitte bislang beim Einstieg unterstützt?

Unser Präsidium achtet sehr darauf, dass Proberichterinnen und Proberichtern eine Abteilung zugewiesen wird, die in ihrem Zuschnitt der durchschnittlichen Größe des jeweiligen Pensums entspricht. Zu volle Abteilungen werden ggf. für eine gewisse Dauer von Eingängen freigestellt.

Seit einigen Jahren erfolgt die Betreuung in den ersten zwei Wochen der Proberichter:innen im ersten Jahr durch täglich wechselnde Kollegen: Zuständig für die Betreuung in den ersten zwei Wochen sind die jeweiligen Richter und Richterinnen im Tagesdienst. Nach den Berichten unserer aktuellen Proberichter:innen funktioniert dies überwiegend gut. Die meisten Richter:innen im Tagesdienst gehen aktiv auf die Proberichterinnen und Proberichter zu und unterstützen sie. Das hat den Vorteil, dass die neuen Kolleg:innen in den ersten zwei Wochen gleich mehrere Kolleginnen und Kollegen kennen lernen. Ein festes Mentoringprogramm nach diesen zwei Wochen existiert bei uns derzeit nicht. Das liegt wohl daran, dass wir seit Jahren eine kleine Gruppe sehr aktiver Kolleg:innen haben, die sich für die Unterstützung der Proberichter:innen verantwortlich fühlen und sie über das gesamte Jahr hinweg intensiv unterstützen. Darüber hinaus würde ich sagen, dass wir insgesamt ein sehr hilfsbereites Kollegium mit „offenen Türen“ sind.

Die in den Standards vorgesehenen Feedbackgespräche nach drei bis vier Monaten finden schon seit einigen Jahren regelmäßig statt.

Wie plant das Amtsgericht Mitte die neuen Standards umzusetzen?

Unsere Planungen sind noch nicht abgeschlossen, da voraussichtlich erst ab Sommer 2025 wieder Proberichter:innen im ersten Jahr zu uns kommen werden. Nach den bisherigen Überlegungen soll die täglich wechselnde Betreuung in den ersten zwei Wochen beibehalten werden. Darüber hinaus werden wir eine Lösung für das Mentoring für das gesamte Jahr finden müssen. Hier werden wir diskutieren müssen, ob die Mentoren aus einer Gruppe Freiwilliger rekrutiert werden oder ob alle Kolleginnen und Kollegen des Gerichts wechselnd Mentoren sein müssen. Auch die Frage einer möglichen Entlastung der Mentoren/Mentorinnen sollten wir in diesem Zusammenhang zumindest erörtern.

Wesentlich schwieriger ist die Umsetzung der Entlastung in den ersten drei Monaten:  Wir haben im Schnitt drei bis vier Proberichter:innen im ersten Jahr. Das ist auch gegenüber anderen großen Amtsgerichten eine relativ hohe Anzahl. Wir hatten daher in einem gemeinsamen Austausch mit der Präsidentin zunächst angedacht, eine dauerhafte Lösung für die Entlastung in den ersten drei Monaten zu finden, die vermeidet, dass ständig Abteilungen neu zugeschnitten werden müssen. Die Idee war, dass zwei Kolleg:innen dauerhaft mit einem gewissen Pensum als Vertretungsrichter:innen eingesetzt werden und dann während der ersten drei Monate der Proberichter:innen die Entlastung auffangen. Diesen Gedanken haben wir derzeit aber wieder verworfen. Hierdurch müssten die anderen Kolleg:innen nicht nur die Entlastung der Proberichter:innen mittragen, sondern auch die Entlastung der Vertretungsrichter:innen. Das ist angesichts der bevorstehenden Weggänge einfach zu viel.

Voraussichtlich werden daher ab dem kommenden Jahr ad-hoc passende Abteilungen „geschneidert“ werden müssen. Wenn man die geplante Entlastung ernst nimmt, wird es nicht genügen, die jeweilige Abteilung ab der Zuweisung der Proberichterin bzw. des Proberichters von Eingängen freizustellen, um diese zu reduzieren. Hierdurch erhält man regelmäßig keine Abteilung mit einem 0,5 Pensum (oder gar weniger bei Teilzeit). Vielmehr müsste stets ein Paket an Beschlüssen gefasst werden:

  • Freistellung der jeweiligen Abteilung von Eingängen, sobald sich abzeichnet, dass eine Proberichterin/ein Proberichter im ersten Jahr kommen wird,
  • Reduzierung der Abteilung durch Verteilung von Verfahren auf die anderen Abteilungen.

Und dann muss die Abteilung auch wieder auf das Pensum ohne Entlastung zugeschnitten werden:

  • Zuweisung der Eingänge zum nicht reduzierten Pensum ab einem gewissen Zeitpunkt
  • Zuweisung weiterer Verfahren in die Abteilung, um ein Dezernat mit der durchschnittlichen Größe des jeweiligen Pensums zu schaffen.

In seltenen Fällen wird es vielleicht dazu kommen, dass zeitgleich mit dem Kommen eines Proberichters/einer Proberichterin ein Lebenszeitrichter oder eine Lebenszeitrichterin mit einem reduzierten Pensum im Zivilprozess in den Ruhestand geht; dann müsste etwas weniger maßgeschneidert werden.

Wo ergeben sich aus Ihrer Sicht bei der Umsetzung Probleme? Wo besteht ggf. noch Verbesserungspotential?

Das größte Umsetzungsproblem besteht in der ständigen Schaffung passender Abteilungen. Hier stellt sich mir die Frage, ob nicht beispielsweise eine geringere Entlastung, wie beispielsweise in Schleswig-Holstein praktikabler ist. Dort werden Proberichter:innen seit vielen Jahren schon in den ersten sechs Monaten nur mit 0,7 Anteilen ihrer Arbeitskraft beschäftigt. Eine solche Proberichter-Abteilung ließe sich durch geringere Eingänge leichter schaffen und auch wieder erhöhen.

Mich würde nach einer gewissen Testzeit interessieren, ob die Entlastung tatsächlich von den Proberichter:innen als Anreiz wahrgenommen wird. Steht dem erheblichen Aufwand für die Gerichte und der Mehrbelastung aller anderen Richter:innen ein nennenswerter Mehrwert gegenüber? Diese Frage muss aus meiner Sicht in einer Auswertung gestellt werden. Ich persönlich vermute, dass es wichtigere Aspekte gibt, die einen Anreiz schaffen, in die Justiz zu gehen bzw. zu bleiben: Insbesondere ein hilfsbereites, sympathisches Kollegium, Unterstützung und Austausch in allen Proberichterjahren, ein passendes Fortbildungsangebot zum richtigen Zeitpunkt (überspitzt formuliert: thematische Einführungen in die jeweiligen Dezernate sollte es nicht nur einmal im Jahr in Trier geben), eine funktioniernde IT und die Möglichkeit, auf die Stationen Einfluss nehmen zu können. Ggf. sollte dann bei der Entlastung nachjustiert werden.

Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen?

Für die Zukunft wünschen wir uns, wesentlich früher bei derartigen Entscheidungen eingebunden zu werden. Es kann aus meiner Sicht nicht sein, dass derartige Maßnahmen beschlossen werden, ohne die tatsächlich von der Umsetzung Betroffenen und in der Ausbildung von Proberichter:innen Erfahrenen nach eigenen Vorschlägen zu fragen.

Liebe Frau Dr. Masuhr, herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, um unsere Fragen zu beantworten.

Das Interview führte Anna Radke schriftlich.