Worum geht es bei der sogenannten Whistleblower-Richtlinie der EU?

Whistleblower in der Berliner Justiz können sich jetzt an einen Vertrauensanwalt wenden. Was aber an diesen herangetragen werden kann, ergibt sich erst aus der sogenannten Whistleblower-Richtlinie der EU. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über diese Richtlinie gegeben, aus dem auch klar wird, dass in ihr das Potential für schwierige juristische Fragen abseits der justizinternen Whistleblower schlummert.

Hintergrund

„Don’t shoot the messenger!“ lautet ein englisches Sprichwort. Und doch informieren gerade prominente Fälle aus den Vereinigten Staaten die Öffentlichkeit darüber, dass das Offenlegen dunkler Machenschaften häufig gravierende persönliche Auswirkungen auf die „Verräterin“ bzw. den „Verräter“ hat. Natürlich ist auch Europa von solchen Machenschaften nicht frei; auch hier „[…] liebt [niemand] den Boten schlimmer Worte“ (Sophokles, Antigone. Erster Akt. Dritte Szene). Die Europäische Union begegnet dem Dilemma der sogenannten Whistleblower (im deutschsprachigen Richtlinien-Jargon: „Hinweisgeber“) mit der Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (ABl. L 305, 17) – im Folgenden: Whistleblower-Richtlinie, Richtlinie oder WRL –. Deren Erwägungsgründe (Ziff. 1) gehen davon aus, dass „Personen, die für eine öffentliche oder private Organisation arbeiten […] eine in diesem Zusammenhang auftretende Gefährdung oder Schädigung des öffentlichen Interesses häufig als Erste [wahrnehmen]. Indem sie Verstöße gegen das Unionsrecht melden, die das öffentliche Interesse beeinträchtigen, handeln diese Personen als Hinweisgeber und tragen entscheidend dazu bei, solche Verstöße aufzudecken und zu unterbinden. Allerdings schrecken potenzielle Hinweisgeber aus Angst vor Repressalien häufig davor zurück, ihre Bedenken oder ihren Verdacht zu melden.“ Die Umsetzungsfrist der Richtlinie ist für juristische Personen mit über 249 Arbeitnehmern im Dezember letzten Jahres abgelaufen (vgl. Art. 26 Abs. 1 WRL), ohne dass der 19. Bundestag das die Richtlinie umsetzende Hinweisgeberschutzgesetz (vgl. Referentenentwurf aus Dezember 2020) verabschiedet hätte.

Wie einem Schreiben der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung vom 13. Dezember 2021 zu entnehmen ist, steht Whistleblowern aus dem Geschäftsbereich der Justiz - jedenfalls bis zur Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht und soweit die Behörden und Gerichte keine eigenen internen Meldestellen vorläufig einrichten - ein Vertrauensanwalt (E-Mail: vertrauensanwalt@senjustva.berlin.de) zur Verfügung. Rechtsanwalt Tietz, der seit August 2017 als Vertrauensanwalt der Berliner Verwaltung Teil der Korruptionsbekämpfung in der Hauptstadt ist, nimmt nun auch Meldungen aus der Justiz über Verstöße gegen die Whistleblower-Richtlinie entgegen. Vorläufig bildet er die von der Richtlinie geforderte (interne) Meldestelle (vgl. Art. 8 f. WRL).

Um welche Verstöße geht es?

Wenig überraschend geht es um bestimmte Verstöße gegen das Unionsrecht (vgl. Art. 1, 2 Abs. 1, 5 Nr. 1 WRL). Die Richtlinie zählt die einschlägigen Rechtsakte in ihrem Anhang im Einzelnen auf und nennt folgende Bereiche (vgl. Art. 2 Abs. 1 Buchst. a WRL): öffentliches Auftragswesen, Finanzdienstleistungen, Finanzprodukte und Finanzmärkte sowie Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung, Produktsicherheit und -konformität, Verkehrssicherheit, Umweltschutz, Strahlenschutz und kerntechnische Sicherheit, Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit, Tiergesundheit und Tierschutz, öffentliche Gesundheit, Verbraucherschutz, Schutz der Privatsphäre und personenbezogener Daten sowie Sicherheit von Netz- und Informationssystemen. Daneben geht es unter anderem auch um Verstöße gegen Unionsvorschriften über Wettbewerb und staatliche Beihilfen, sowie Verstöße gegen die Binnenmarktvorschriften in Bezug auf Handlungen, die die Körperschaftsteuer-Vorschriften verletzen oder in Bezug auf Vereinbarungen, die darauf abzielen, sich einen steuerlichen Vorteil zu verschaffen, der dem Ziel oder dem Zweck des geltenden Körperschaftsteuerrechts zuwiderläuft (Art. 2 Abs. 1 Buchst. c WRL). Eine Ausdehnung auf weitere Bereiche durch nationales Recht ist möglich (vgl. Art. 2 Abs. 2 WRL). Aus Sicht der Justiz ist auch die Vorschrift des Art. 3 Abs. 3 WRL wichtig: „Diese Richtlinie berührt nicht die Anwendung von Unionsrecht oder nationalem Recht in Bezug auf alle folgenden Punkte: a) den Schutz von Verschlusssachen; b) den Schutz der anwaltlichen und ärztlichen Verschwiegenheitspflichten; c) das richterliche Beratungsgeheimnis; [und] d) das Strafprozessrecht.“ Nur in wenigen der genannten Bereiche und Rechtsakte drängen sich Verstöße aus der Sicht von Staatsanwältinnen und Staatsanwälten bzw. Richterinnen und Richtern unmittelbar auf. Natürlich haben es diese tagtäglich mit abertausenden Rechtsverstößen zu tun, von denen sicher nicht wenige in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen. Aber um diese (bereits aufgedeckten und wohl nach dem vorgenannten Art. 3 Abs. 3 WRL ohnehin ausgenommenen) Verstöße geht es der Richtlinie offenbar nicht, sondern – besonders heikel – um entsprechende Verstöße innerhalb der Justiz. Bei allem Unbehagen sind Rechtsverstöße auch im Bereich der Justiz nicht auszuschließen, das sieht auch der nationale Gesetzgeber (z.B. in §§ 331 ff. StGB), und immerhin: Beispielsweise mit Datenschutz oder IT-Sicherheit (vgl. im Einzelnen: Anhang der WRL, Teil I, Buchst. J) hat vermutlich fast jede/r tagtäglich zu tun. Geschützt werden von der Richtlinie unter anderem Hinweisgeber, die im privaten oder im öffentlichen Sektor tätig sind und im beruflichen Kontext Informationen über Verstöße erlangt haben, insbesondere einschließlich Beamter (im Sinne des Unionsrechts; vgl. Art. 4 Abs. 1 Buchst. a, 5 Nr. 7 WRL). Diese Hinweisgeber haben nach Art. 6 Abs. 1 WRL „Anspruch auf Schutz nach dieser Richtlinie, sofern sie hinreichenden Grund zu der Annahme hatten, dass die gemeldeten Informationen über Verstöße zum Zeitpunkt der Meldung der Wahrheit entsprachen und dass diese Informationen in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fielen, und sie intern […] oder extern […] Meldung erstattet haben oder eine Offenlegung […] vorgenommen haben.“ In beschränktem Umfang werden auch „Mittler“ genannte Unterstützer von Hinweisgebern und sogar bestimmte Dritte geschützt (vgl. Art. 5 Nr. 8, 4 Abs. 4 Buchst. a und b, 19 ff. WRL). Die erwähnten Möglichkeiten einer „internen“ Meldung innerhalb der juristischen Person (vgl. Art. 5 Nr. 4 WRL; d.h. derzeit gegenüber dem beauftragten Vertrauensanwalt) oder einer „externen“ Meldung an die zuständige Behörde (vgl. Art. 5 Nr. 5 und 14 WRL; s. zu dem Begriff der Offenlegung Art. 5 Nr. 6, 15 WRL) werden in den Art. 7 ff., 10 ff., 16 ff. der Richtlinie geregelt. Im Mittelpunkt dieser Bestimmungen steht das Vertraulichkeitsgebot, mit dem potentiellen Whistleblowern die Angst vor „Enttarnung“ genommen werden soll: Die Identität des Hinweisgebers und Informationen, die einen Rückschluss auf seine Identität zulassen, dürfen ohne dessen ausdrückliche Zustimmung keinen anderen Personen als gegenüber den befugten Mitarbeitern, die für die Entgegennahme von Meldungen oder für das Ergreifen von Folgemaßnahmen zu Meldungen zuständig sind, offengelegt werden (vgl. Art. 16 Abs. 1 WRL). Allerdings darf die Identität dann offengelegt werden, wenn dies nach Unionsrecht oder nationalem Recht eine notwendige und verhältnismäßige Pflicht im Rahmen der Untersuchungen durch nationale Behörden oder von Gerichtsverfahren darstellt, so auch im Hinblick auf die Wahrung der Verteidigungsrechte der betroffenen Person (vgl. Art. 16 Abs. 2 WRL).

Was bedeutet „ein hohes Schutzniveau“ (Art. 1 WRL) für Whistleblower?
Neben der erwähnten Anonymität sind die von der Richtlinie erfassten Whistleblower vor Repressalien geschützt, beispielsweise vor Suspendierung, Kündigung oder vergleichbaren Maßnahmen; vor Herabstufung oder Versagung einer Beförderung; vor Disziplinarmaßnahmen; und sogar vor benachteiligender Behandlung (vgl. Art. 19, 5 Nr. 11 WRL). Die Mitgliedsstaaten sind verpflichtet, eine Reihe von Schutzmaßnahmen zugunsten der geschützten Personen zu ergreifen, darunter haben sie sicherzustellen, dass diese Personen „[i]n Gerichtsverfahren, einschließlich privatrechtlicher, öffentlich-rechtlicher oder arbeitsrechtlicher Gerichtsverfahren wegen Verleumdung, Verletzung des Urheberrechts, Verletzung der Geheimhaltungspflicht, Verstoßes gegen Datenschutzvorschriften, Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen sowie Schadensersatzverfahren, […] aufgrund von Meldungen oder von Offenlegungen im Einklang mit dieser Richtlinie in keiner Weise haftbar gemacht werden“ (Art. 21 Abs. 7 UAbs. 1 Satz 1 WRL). Sie haben auch Zugang zu Unterstützung, darunter Prozesskostenhilfe (unter anderem) in Strafverfahren (vgl. Art. 20 WRL).

Fazit

Auch wenn die wahrgenommene Korruption hierzulande seit Jahren als sehr gering eingestuft wird (vgl. https://www.transparency.de/cpi/cpi-2021/cpi-2021-tabellarische-rangliste/) und gerade in der Justiz die absolute Ausnahme darstellen sollte, ist das (wenn auch zunächst nur theoretische) Mehr an Schutz für Whistleblower durch die Richtlinie im Grundsatz zu begrüßen. Welche Teile der Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist (für öffentlich-rechtliche Arbeitgeber) unmittelbar anwendbar sind, hängt davon ab, ob die jeweilige Vorschrift hinreichend konkret ist. Wie sich dies in der Praxis der vorläufigen Anwendung bewähren wird, bleibt abzuwarten und - angesichts der etwas schizophrenen Sonderrolle der Justiz als Zuständige nicht nur für fremde, sondern eben auch für eigene Missetaten - durchaus spannend, selbst nach Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht. Schon vor der Umsetzung gebietet der effet utile die Berücksichtigung der Richtlinie bei der Auslegung nationalen Rechts, weshalb die Whistleblower-Richtlinie der Justiz schon jetzt - und jenseits der „internen“ Anwendung - eine Vielzahl juristischer Fragestellungen aufgibt.


Dr. Teoman Hagemeyer-Witzleb