Videoverhandlungen in Berliner Gerichtssälen: Was spricht gegen eine ehrliche Bestandsaufnahme?

In wie vielen Berliner Gerichtssälen lassen sich Videoverhandlungen durchführen?

Nachdem im Oktober 2022 die damalige Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung hierzu Zahlen veröffentlichte, die sich als peinliche Schönfärberei entpuppten („68 Prozent“, wir berichteten, siehe Votum 2/2023), antwortet die Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz dem Abgeordnetenhaus weiter in unredlicher Weise.

Auf eine Schriftliche Anfrage eines Abgeordneten der SPD erwidert die für Justiz zuständige Senatsverwaltung im November 2023 erneut in einer Variation der genannten Fragestellung, die aufhorchen lässt (Abghs.-Drucks. 19/17307). Danach sollen sich in 72 Prozent der Berliner Gerichtssälen Videoverhandlungen durchführen lassen.

Das ist keine Lüge – denn der Teufel steckt im Detail. Auf den ersten Blick könnte man meinen, der Fragesteller aus der Regierungskoalition habe mit ungenauen Fragen bewusst eine schöngefärbte Antwort ermöglichen wollen. Auf den zweiten Blick spricht aber mehr dafür, dass die Senatsverwaltung das Abgeordnetenhaus und die Öffentlichkeit erneut bewusst in die Irre führt. Leidtragende ist – wieder einmal – die Justiz, was uns in besonderem Maße ärgert.

Die Frage „Wie viele Gerichtssäle […] erfüllen […] technisch die jeweils einschlägigen prozessrechtlichen Voraussetzungen zur Ermöglichung von digitalen Verhandlungen?“ provoziert - erneut - eine missverständliche Antwort. An 14 der 25 Justizstandorte seien Videokonferenzen zu 100 Prozent möglich, an drei weiteren zu über 50 Prozent, durchschnittlich zu 72 Prozent. Dieses Mal ist die Antwort zumindest mit einem Disclaimer versehen, der das zentrale Problem gut zusammenfasst: „Insbesondere bei den Gerichtsstandorten mit einer Videokonferenzmöglichkeit von 100 % ist diese Quote auch darauf zurückzuführen, dass portable Videokonferenzsysteme beschafft wurden, die in allen Sälen Verwendung finden können“.

Die Zahlen sind nicht aussagekräftig. Denn nach der Lesart von Fragendem und Antwortender verhilft ein einziges mobiles Videokonferenzgerät einem Gerichtsstandort mit beliebig vielen Sälen zu einer „Viko“-Quote von 100 Prozent. Konkret bedeutet dies am Beispiel des Sozialgerichts: Bei 14 Sälen und – nach der Abfrage des Landesverbands im Jahr 2022 –  zwei mobilen Videokonferenzsystemen und null Sälen mit stationär verbauter Videokonferenztechnik verkündet die Senatsverwaltung eine „Viko“-Quote von 100 Prozent! Dabei können bei der bezeichneten Ausstattung nur in zwei Sälen gleichzeitig Videoverhandlungen stattfinden, was einer Quote von ca. 14 Prozent entspricht.

Auch ein weiterer Blick auf die Antwort bringt Ernüchterung: Die Steigerung der nichtssagenden „Viko“-Quote von 68 Prozent (2022) auf 72 Prozent (2023) ist nicht etwa auf ein Voranschreiten der Digitalisierung zurückzuführen, sondern darauf, dass das „Arbeintsgericht“ [sic] nun über 23 Säle verfügt (im Jahr 2022 waren es noch 22) und darauf, dass im Sozialgericht nun in 14 (statt wie zuvor in zwei) Sälen eine Videoverhandlung „möglich ist“. Geändert hat sich nicht die Ausstattung des Sozialgerichts, sondern die Zählweise der Senatsverwaltung. Schließlich wurde ein Teil der ersten Frage, die einen Vergleich mit den Zahlen aus 2022 erbat, gar nicht erst beantwortet. Warum nur?

Es ist für uns schwer nachvollziehbar, aus welchem Grund die Senatsverwaltung nicht auch Antworten auf eine (so) nicht gestellte Frage mitliefert. Die Gelegenheit dazu war gegeben, da die letzte der an die Senatsverwaltung gerichteten Fragen lautete: „Ist den Antworten vonseiten des Senats etwas hinzuzufügen?“. Eine Richtigstellung hätte sich mit Blick auf Presseberichte nach der Schönfärberei der Vorgänger in der Senatsverwaltung aufgedrängt (der Tagesspiegel titelte am 25. Oktober 2022: „Zwei Drittel aller Gerichtssäle sind fit für digitale Verhandlungen.“) und wäre auch wegen der bevorstehenden Reform des Prozessrechts zu einer (antragsgebundenen) Soll-Videoverhandlung geboten gewesen.

Denn für Rechtssuchende wie Rechtschaffende ist entscheidend, in wie vielen Sälen (gleichzeitig) eine Videoverhandlung stattfinden kann, sei es mit mobiler oder stationärer Videotechnik, sei es vor kollegial besetzten Spruchkörpern oder vor Individualentscheider/innen, sei es im Rahmen einer öffentlichen Gerichtsverhandlung oder im Rahmen nichtöffentlicher (z.B. Erörterungs )Termine. Hierbei spielt aber nicht nur die Anzahl der Säle mit stationärer Videotechnik und der mobilen Videokonferenzanlagen eine Rolle, sondern gerade auch die verfügbare Bandbreite oder die vorhandene Anzahl an (Webex-)Lizenzen.

Es macht wenig Sinn, Zahlen zu erheben, die keine Aussagekraft haben. Primärdaten, deren Erhebung Ressourcen bei den hoch belasteten IT-Stellen der Gerichte und anderswo bindet, sollen ein Abbild der Wirklichkeit liefern, um den politischen Akteuren Grundlagen für ihre Handlungsoptionen zu geben. Eine Antwort mit Belanglosem erfüllt diese Zwecke nicht und schadet dem Interesse der Justiz, zügig eine gute Ausstattung zu erhalten. Die erteilte Antwort beeinträchtigt die Justiz im Berliner Verteilungskampf um knappe Mittel.

Was politisch scheinbar gut aussieht, wird in naher Zukunft der Richterschaft auf die Füße fallen. Diese wird sich perspektivisch gegenüber Verfahrensbeteiligten rechtfertigen müssen, wenn sie keine Videokonferenzen anbietet. Beteiligte, wie z.B. (auswärtige) Rechtsanwälte, Krankenkassen, dem Vernehmen nach sogar Bundes(ober)behörden wie z.B. das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, haben ein wachsendes Interesse an Videoverhandlungen. Bei entsprechender Reform des Prozessrechts haben sie künftig sogar die Möglichkeit, dieses Interesse auch durchzusetzen. Der Illusion, dass die Prozessbeteiligten die Scheinantworten der Senatsverwaltung in ihre Erwartungen an die Justiz nicht einbeziehen, sollte man sich nicht hingeben. Weniger noch jener, dass mit den tatsächlich vorhandenen Kapazitäten regelhaft per Video verhandelt werden könnte. Die behauptete „Viko-Möglichkeit“ garantiert im Tatsächlichen eben noch keine Umsetzung. Es scheint, als würde beim Wunsch um eine angemessene Ausstattung die Dritte auch in diesem Kontext zur unliebsamen Gewalt - bedauerlich!

 

Dr. Hagemeyer-Witzleb / Dr. Schifferdecker