Kritisch hinterfragt: Das Beurteilungswesen in der ordentlichen Gerichtsbarkeit

Die Richterverbände und -vertretungen sollten die Gunst der Stunde nutzen, um auf die Einführung eines Beurteilungssystems zu drängen, welches auch in der Beurteilungspraxis den Vorstellungen der Mütter und Väter des Grundgesetzes gerecht wird, meint Richterin am Kammergericht Doerthe Fleischer.

Problemstellung:

Aus der Sicht eines Mitglieds des Präsidialrats beim Kammergericht, welches im Rahmen der Gremienarbeit mit einer Vielzahl von Beurteilungen, insbesondere Anlassbeurteilungen, befasst ist, ist die Berliner Beurteilungspraxis als fragwürdig zu bezeichnen. Es kann keinem ernsthaften Zweifel unterliegen, dass Anlassbeurteilungen von einigen Beurteilenden dazu benutzt werden, steuernd in ein Bewerbungsverfahren einzugreifen. Zum Beispiel werden bewusst Sachverhalte positiv verwertet, die nicht herangezogen werden dürfen (wie außerdienstliches Engagement, in Augen der Verwaltung konstruktive Gremienarbeit oder die tägliche Anwesenheit im Gericht), oder es wird der Maßstab, welcher sich am Statusamt ausrichtet, schlicht missachtet. Auffällige und kaum zu erklärende Leistungssteigerungen innerhalb kürzester Zeit, nachdem vorangegangene Bewerbungen gescheitert waren, stellen keine Seltenheit dar. Deshalb wird unter der Hand als Faustregel gehandelt, sich möglichst frühzeitig auf höhere Besoldungsämter zu bewerben, irgendwann könnte es klappen, wobei es zu verhindern gilt, bei den Beurteilenden in Ungnade zu fallen. Teilweise besteht der Eindruck, als lieferten sich die Gerichtsleitungen ein Wettrennen bei der Vergabe von zur Beförderung geeigneter Noten. Die Vergabe von Best- und Höchstnoten an R3- und höher Besoldete erfolgt inzwischen nahezu regelhaft. Das Überbeurteilungsverfahren und einmal jährlich einberufene Beurteilungskonferenzen mit allen Gerichtsleitungen wurden bislang nicht dazu genutzt, einheitliche Maßstäbe zustande zu bringen und eine Noteninflation zu vermeiden.

Rückenwind für kritische Stimmen:

Jedoch tut sich etwas im Bereich des Beurteilungswesens. Während es bisher einen Tabubruch bedeutete, das Beurteilungswesen offen als intransparent und rechtswidrig anzuprangern, mehren sich beachtliche Stimmen aus der Rechtsprechung, welche die Kritik an den dienstlichen Beurteilungen als berechtigt erscheinen lassen.

(1) Urteil des BVerwG vom 7. Juli 2021 - 2 C 2.21 -

Mit dem Urteil wurde entschieden, dass wegen der Bedeutung von dienstlichen Beurteilungen für die nach Art. 33 Abs. 2 GG zu treffenden Auswahlentscheidungen die grundlegenden Vorgaben (Regel oder Anlassbeurteilungen und die Bildung eines zusammenfassenden Gesamturteils) in Rechtsnormen geregelt werden müssen. Damit ist dem rechtlichen Gerüst des Berliner Beurteilungswesens in Gestalt von bloßen Beurteilungsrichtlinien die Grundlage entzogen worden. Allerdings erscheint es fraglich, ob sich durch die bevorstehende Reform des Berliner Richtergesetzes am hiesigen Beurteilungswesen spürbar etwas verändern wird. Denn hierfür bedürfte es der Einsicht der Handelnden in der Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung und der Politik, dass das Beurteilungswesen anfällig für Missbrauch ist, und obendrein des Willens zur Abhilfe.

(2) Beschluss des OVG Berlin-Brandenburg vom 19. Mai 2021 - 4 S 15/21 -

In dem Beschluss hat das höchste Berliner Verwaltungsgericht mit aller Deutlichkeit, wenngleich nur beiläufig, die Gefahr beschrieben, dass die Verantwortlichen Beurteilungen missbrauchen und absichtlich keine an Art. 33 Abs. 2 GG ausgerichtete Bestenauslese treffen, sondern eine Auslese aus leistungsfremden Motiven vornehmen (wie persönliche Nähe, parteipolitische oder ähnliche Verbundenheit zur ausgewählten Person einerseits oder eine Abwehrhaltung gegenüber der bestgeeigneten Person andererseits), oder die Feststellungen von Eignung, Befähigung und Leistung defizitär ausfallen und deshalb falsche Ergebnisse erzielt werden. Weiterhin wird in dem Beschluss ausgeführt, dass sich bei langfristig planvollem Vorgehen die erwünschte ‚Leistungsentwicklung‘ auch unauffällig ergeben kann und eine ungerechtfertigte Förderung von Günstlingen in den unterschiedlichsten Beurteilungssystemen möglich erscheint. Hierbei bleibt die Entscheidung nicht stehen, sondern zeigt auf, es könnte u.a. erwogen werden, die Beurteilungsverantwortlichkeit einer Mehrzahl von Beurteilenden zu übertragen, um auf diesem Wege zur Objektivierung der dienstlichen Beurteilungen beizutragen.

(3) Online-Fortbildung „Dienstliche Beurteilungen in der aktuellen Rechtsprechung des BVerwG“

Dem Referenten der vom GJPA der Länder Berlin und Brandenburg organisierten und am 21. Januar 2022 abgehaltenen Fortbildung, RiBVerwG Dr. von der Weiden, Mitglied des mit dem öffentlichen Dienstrecht befassten Revisionssenats, ist ebenfalls die Missbrauchsgefahr bekannt, die einer dienstlichen Beurteilung anhaftet. Er erklärte unverhohlen, dass einer Anlassbeurteilung beim BVerwG mit Misstrauen begegnet werde, weil damit eine erhebliche Steuerungsmöglichkeit verbunden sei, wobei eine „gut gemachte falsche Beurteilung“ durch das Gericht nicht korrigierbar sei. Art. 33 Abs. 2 GG wolle eine optimale Besetzung sicherstellen, um die öffentlichen Aufgaben zu erfüllen. „Vetternwirtschaft“ solle unterbunden werden. Es dürfe nicht sein, dass eine vorgeformte Personalentscheidung durch nach Gusto gefertigte Anlassbeurteilungen abgesichert werde. Jedoch kriege das eine dolos handelnde Auswahlbehörde sogar bei einem Regelbeurteilungssystem hin. Je höher das Amt sei, desto größer sei die Gefahr einer dolosen Vergabe. Er gab den Beurteilenden wohlmeinend mit auf den Weg: Das Gute, was man dem einen tut, ist das Schlechte, was man dem anderen antut.

Erkenntnisse:

(1) Beurteilungen auf Wunsch

Dem Präsidialrat beim Kammergericht wurde vor nicht allzu langer Zeit eine auf Wunsch erstellte Anlassbeurteilung vorgelegt, die ersichtlich den Hintergrund hatte, Einfluss auf die Person des Beurteilenden zu nehmen. Diese Anlassbeurteilung dürfte rechtswidrig sein. Eine Richterin bzw. ein Richter hat keinen Anspruch auf eine Beurteilung zu einem gewünschten Zeitpunkt. Sofern die Beurteilungsrichtlinien das vorsehen, ist dies nach den Angaben des Referenten Dr. von der Weiden problematisch. Dadurch werde in das System der Regel- und Anlassbeurteilungen eingegriffen und eine ergebnisorientierte Steuerung durch beliebige Anlassbeurteilungen ermöglicht.

(2) Beurteilungen aus Anlass einer Bewerbung

Die Berliner Übung in der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Beurteilungen aus Anlass einer Bewerbung zu erstellen ungeachtet der Tatsache, dass bereits eine aktuelle Beurteilung vorliegt, könnte ausgehend von den Ausführungen des Referenten Dr. von der Weiden, der sich in diesem Zusammenhang auf das Urteil des BVerwG vom 9. Mai 2019 - 2 C 1.18 - bezog, nicht minder rechtswidrig sein. Liege eine aktuelle Regelbeurteilung vor, bestehe ein Aktualisierungsverbot. Wenn nach Erstellung der Regelbeurteilung keine wesentlich anderen Aufgaben im Sinne der vorgenannten Entscheidung über einen erheblichen Zeitraum übernommen worden seien, bestehe kein Grund für die Erstellung einer neuen Beurteilung aus Anlass einer Bewerbung, und zwar auch dann nicht, wenn die letzte Regelbeurteilung drei oder vier Jahre zurückliege. Keinesfalls dürfe einem Beförderungsverfahren eine Anlassbeurteilung regelmäßig vorgeschaltet werden. Ebenso wenig bedürfe es einer Vereinheitlichung der Zeiträume oder Endzeitpunkte der Beurteilungen aller Bewerberinnen und Bewerber. Eine fünf und mehr Jahre zurückliegende Regelbeurteilung sei hingegen nicht mehr aktuell. In diesem Falle dürfe eine Anlassbeurteilung gefertigt werden, die aber nicht bei der nächsten Bewerbung erneuert werden müsse. Es sei überlegenswert, bei einer Gesetzesreform in Berlin die Regelbeurteilungsintervalle zu verkürzen und Regelbeurteilungen gleichfalls für über 50 Jährige und ab einer R3-Besoldung einzuführen, um die Notwendigkeit der Erstellung von Anlassbeurteilungen einzugrenzen.

Schlussrede:

Theorie und Praxis fallen beim Beurteilungswesen offenbar auseinander. Die Richterverbände und - vertretungen sollten die Gunst der Stunde nutzen, um auf die Einführung eines Beurteilungssystems zu drängen, welches auch in der Beurteilungspraxis den Vorstellungen der Mütter und Väter des Grundgesetzes gerecht wird.

 

Doerthe Fleischer
Richterin am Kammergericht