IT und Justiz – eine unlösbare Aufgabe?

RiLG Dr. Martin Müller-Follert leitet seit dem 1. April 2020 kommissarisch das Dezernat X beim Kammergericht, die Informationstechnik in der Ordentlichen Gerichtsbarkeit - ITOG. Er hat damit eine Aufgabe übernommen, die im Fokus der Kritik, der Erwartungen und der Forderungen steht. Hierzu haben wir ihn befragt

Sie sind seit Anfang April kommissarischer Leiter der ITOG. Eine Frage zum Verständnis vorab: Was macht die ITOG und was unterscheidet sie vom ITDZ?

Die ITOG ist die zentrale Service-Stelle für die IT der gesamten ordentlichen Gerichtsbarkeit. Bei uns liegt die Verantwortung für die sogenannte SBC-Umgebung und für zahlreiche Fachverfahren in den Amtsgerichten, dem Landgericht Berlin und dem Kammergericht.  Das ITDZ ist unser zentraler technischer Dienstleister, der die Umgebung und die Fachverfahren für uns technisch betreibt.  Wichtig ist aber auch, dass in der ordentlichen Gerichtsbarkeit neben der ITOG noch weitere wesentliche Akteure im IT-Bereich unterwegs sind. Dies sind forumSTAR für das zentrale Fachverfahren unserer Gerichte und der Bereich elektronischer Rechtsverkehr / eAkte als treibende Kraft bei der Einführung der elektronischen Gerichtsakte.

Sie sind Richter am Landgericht und kommen nicht aus der IT-Welt. Worin sehen Sie Ihre Stärken, um die Aufgaben der ITOG erfüllen zu können? Wäre ein IT-Spezialist geeigneter?

Die Aufgabe der ITOG ist zunächst einmal die Steuerung des Dienstleisters. Dafür sollte man wissen, welche Aufgaben und Anforderungen im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit bestehen. Dieses Wissen bringt man als Richter sicherlich zu einem guten Stück mit. Schließlich bringt das Richtersein berufsbedingt auch eine gewisse Neugier mit sich. Wie will man sonst komplexe Sachverhalte entscheiden, wenn man nicht versucht, sie zu verstehen. Das ist die Grundlage für meine Arbeit mit meinen Kolleginnen und Kollegen, auch denen, die keinen justiz-spezifischen Hintergrund haben. Das ist, so glaube ich, ein Ringen. Und zwar von beiden Seiten. Vielleicht beantwortet das auch die Frage, ob ein IT-Spezialist für die Position geeigneter wäre?

Für viele ist die Geschichte der IT in der Berliner Justiz eine Pannenserie. Ist ihr neuer Job zum Scheitern verurteilt?

Na, das hoffe ich mal nicht. Richtig ist aber: Die Aufgaben vor denen wir im Bereich der Informationstechnik stehen, sind groß. Oftmals greifen die Aufgaben wie Zahnräder ineinander. Die Pannen dann aber leider auch. Zudem steht die gesamte Organisation gerade mitten in einem tiefgreifenden Veränderungsprozess. Diesen gilt es zu gestalten. Zusätzlich haben der IT-Sicherheitsvorfall beim Kammergericht und jetzt Corona wie ein Brennglas nochmal von zwei Seiten die Anforderungen an die IT beleuchtet. Der Sicherheitsvorfall hat uns gezeigt, wie verwundbar unsere Systeme sein können und welche Anstrengungen wir zu ihrem Schutz unternehmen müssen. Corona erhöht dagegen die Bereitschaft zur Digitalisierung und sorgt sicherlich zur Beschleunigung bei Themen wie Heimarbeit und digitaler Zusammenarbeit. Auch hier liegen größere Arbeitspakete vor uns.

Inwieweit unterscheiden sich die IT-Anforderungen und die Ausstattungsrückstände zwischen Staatsanwaltschaften und Gerichten?

Über Ausstattungsrückstände in anderen Bereichen der Justiz kann und will ich mich nicht äußern. Indes stellt sich die Situation aus meiner Sicht gegenüber den Strafverfolgungsbehörden aber auch den Fachgerichten durchaus als wesentlich komplexer dar. Denn aus dem Aufgabenquerschnitt der ordentlichen Gerichtsbarkeit erwachsen ganz verschiedene Anforderungen an eine zentrale IT-Stelle und auch die weiteren IT-Einheiten wie forumSTAR oder ERV / eAkte. Der Bedarf an IT im Strafprozess ist augenscheinlich ein anderer als im elektronisch geführten Handelsregister. Zu einfach ist aus meiner Sicht aber die Haltung, im IT-Bereich hätte sich in den letzten Jahren in der oG nichts bewegt. Dies übersieht die Veränderungsprozesse bei unseren Fachverfahren durch forumSTAR, die Pilotierung für eine elektronische Akte im Amtsgericht Neukölln oder auch die Anstrengungen für ein Beweismittelinformationssystem für den strafrechtlichen Teil des Landgerichts.

Was sind derzeit Ihre wichtigsten Vorhaben?

Entscheidend für die oG ist sicherlich gerade der Wechsel auf die neue zentrale Betriebsumgebung. Hier läuft gerade ein großes Projekt mit dem ITDZ. Zum Ende der Berliner Sommerferien soll allen Anwenderinnen und Anwendern der neue JustizDesktop als Nachfolger der SBC-Umgebung zur Verfügung stehen. Von dort sind dann unsere Fachverfahren aufrufbar. Parallel dazu ist auch die Anforderung an mobiles Arbeiten für die ordentliche Gerichtsbarkeit ein großes Thema.

An welchen Projekten arbeiten Sie noch?

Die IToG ist auch unterwegs bei der Modernisierung des Kassenverfahrens, welches die ordentliche Gerichtsbarkeit auch für die Fachgerichtsbarkeiten in Berlin zur Verfügung stellt. Im Bereich des Handelsregisters arbeiten wir ebenfalls mit erheblichem Einsatz. Schließlich hat Corona auch das Thema Videokonferenz im Gerichtssaal weiter in den Fokus gerückt. Und nicht zu vergessen: Ein Teil der Arbeitskraft muss auch noch für Folgearbeiten nach dem IT-Sicherheitsvorfall aufgewendet werden.

Wann wird denn das Kammergericht wieder eine voll funktionsfähige IT haben?

Da gibt es zwei Ebenen. Für alle Anwenderinnen und Anwender steht spätestens seit Mitte März unsere SBC-Umgebung zur Verfügung. Da auch alle Beschäftigten mittlerweile eigene Endgeräte erhalten haben, sind alle grundsätzlich arbeitsfähig. Richtig ist aber auch, dass wir mit der Bereitstellung der Services im Kammergericht noch nicht ganz fertig sind. Es fehlt z.B. noch an der Einbindung von Multifunktionsgeräten, die Strafsenate mahnen zu Recht an, dass Geschäftsprozesse zum Einspielen von digitalen Beweismitteln geschärft werden müssen und noch an der einen oder anderen Stelle Software fehlt.

Auf der zweiten Ebene betrachten wir die Services, die IToG vor dem Sicherheitsvorfall für die gesamte ordentliche Gerichtsbarkeit zur Verfügung gestellt hat. Ein Dickschiff hört hier auf den Namen Grundbuch, das bisher auf eigenen Servern im Kammergericht betrieben wurde.

Was sind nach Ihrer Ansicht die strukturellen Gründe dafür, dass die IT-Entwicklung in der Wirtschaft derjenigen in der Justiz so weit voraus ist?

Ich glaube die Grundvoraussetzungen sind ganz andere. Wir versuchen mit unseren IT-Verfahren die vorhandenen Gegebenheiten, also tradierte Arbeitsmodelle zwischen Richterschaft und Geschäftsstellen, unsere Aktenführung und auch Entscheidungsformen abzubilden. Das läuft sicherlich in Bereichen der Wirtschaft gänzlich anders. Da passt sich dann der Geschäftsprozess und auch die Aufgabe des Einzelnen irgendwann vollständig der IT an. Auch ist der Anpassungsdruck sicherlich ein anderer, wenn man ohne IT-Systeme nicht mehr hinreichend wettbewerbsfähig ist. Auf der anderen Seite sollten wir aber auch beachten, dass der Auftrag der Justiz es auch gebietet, allen Bürgerinnen und Bürgern Zugang zu uns zu gewähren und damit unsere IT-Entwicklungen anderen Anforderungen genügen müssen.

Kann die IT der ordentlichen Gerichtsbarkeit überhaupt so zentralisiert geführt werden, wie es derzeit der Fall ist? Wären nicht kleinere Einheiten flexibler? Welche strukturellen Veränderungen wären hilfreich?

Ich glaube nicht, dass jetzt die Lösung für alle skizzierten Herausforderungen in einer Strukturdebatte liegt. Gleich wie die Struktur gewählt wird, wird es Probleme an den Schnittstellen zwischen verschiedenen Bereichen immer wieder geben. Zudem nutzen wir ja beispielsweise mit forumSTAR ein Fachverfahren, das in einem Länderverbund entwickelt wurde. Aus solchen Verbundentwicklungen folgen dann zwangsläufig Vorgaben für die gesamte Infrastruktur. Dass hier alle Berliner Gerichte eigenständig agieren wäre wohl nicht zielführend. Woran ich mich aber gerne beteiligen will ist die Frage, wie wir schneller Anforderungen aus den Gerichten aufnehmen und dann auch umsetzen. Im Bereich des sog. Anforderungsmanagements muss die IToG wieder stärker werden.

Am Sozialgericht sind alle Richterinnen und Richter sowie mittlerweile 25 Servicekräfte mit Laptops ausgestattet und können via VPN-Tunnel im Homeoffice arbeiten. Wann wird es so etwas in der ordentlichen Gerichtsbarkeit geben?

Das Thema mobiles Arbeiten beschäftigt uns in der ordentlichen Gerichtsbarkeit seit längerer Zeit. Leider haben wir es nicht geschafft, hier eine Lösung zu etablieren, die geeignet war, sie zahlreichen Anwenderinnen und Anwendern zur Verfügung zu stellen. Dabei muss man auch beachten, dass die Dimensionen in der ordentlichen Gerichtsbarkeit mit denen in der Sozialgerichtsbarkeit nur schwerlich zu vergleichen sind.  Das gilt sowohl für die Anzahl der Anwenderinnen und Anwender, für die ein entsprechendes System ausgelegt werden muss, als auch für die Anzahl unterschiedlicher Aufgabenbereiche und Fachverfahren, die dabei technisch abgedeckt werden müssen.

Aber auch hier gibt es Bewegung: So konnte zu Beginn der Kontaktbeschränkungen beispielsweise für über 100 Schlüsselpersonen in der ordentlichen Gerichtsbarkeit ein mobiler Zugang zur Verfügung gestellt werden. Weitere Zugänge zur Verfügung zu stellen, ist eine meiner wichtigsten Aufgaben in der näheren Zukunft.

Wann wird es die Möglichkeit geben, aus jedem Berliner Gerichtsstandort der ordentlichen Justiz Videokonferenzen zu führen?

Ich meine, dies ist bereits heute möglich. Alle Gerichtsstandorte sind vom Kammergericht mit Internetanschlüssen ausgestattet worden. Wir vom Kammergericht stellen zudem allen Häusern in Zusammenarbeit mit der Senatsverwaltung eine zunächst cloudbasierte Videokonferenzplattform zur Verfügung. Auch an der Bereitstellung weiterer Technik arbeiten wir.

Können Sie dazu schon nähere Angaben machen? Welches Programm wird es sein, welche Technik werden Sie einkaufen?

Ich möchte dem Verfahren nicht vorgreifen, kann aber sagen, dass es nach derzeitigem Stand nicht mehr lange dauern wird, bis erste Kolleginnen und Kollegen im Gericht Videotechnik verwenden können.

Dann lassen Sie uns doch in einigen Monaten darüber sprechen, was Sie erreichen konnten. Ich danke Ihnen für das Interview.

Das Interview führte Dr. Stefan Schifferdecker