Interview mit dem Präsidenten des Kammergerichts

 

Der Präsident des Berliner Kammergerichts, Dr. Bernd Pickel, hat dem VOTUM Anfang Juni ein Interview gegeben. Dr. Oliver Elzer und Dr. Stefan Schifferdecker haben ihn nach seiner Einschätzung der Lage der Berliner Justiz gefragt.

 

VOTUM: Herr Dr. Pickel, vielen Dank, dass Sie sich für uns Zeit nehmen. Zu wenig Räume, schlechte IT-Ausstattung, schlechte Presse wegen Haftentlassungen, jahrelanger Kampf um eine angemessene Besoldung. Gerade heraus: Liegt die Berliner Justiz am Boden?

Dr. Pickel: Ich möchte eines voranstellen: die Berliner Justiz funktioniert, und das gilt besonders für ihren größten Bereich, die ordentliche Gerichtsbarkeit. Ich halte nichts davon, aus taktischen Gründen die Zustände zu skandalisieren. So etwas würde den täglichen Leistungen, die die Richterinnen und Richter der Amtsgerichte, des Landgerichts Berlin und des Kammergerichts erbringen, nicht gerecht. Doch mache ich mir Sorgen, dass es in der Zukunft schwerer werden könnte, das hohe Niveau zu halten. Den Präsidentinnen und Präsidenten des Landgerichts Berlin und der Berliner Amtsgerichte geht es ebenso. Dies haben wir in einer Presseerklärung im April dieses Jahres gemeinsam zum Ausdruck gebracht.

 

Was muss getan werden?

Um die Leistungsfähigkeit unserer Gerichte zu erhalten, brauchen wir ein Gesamtpaket. Es muss erstens gesichert sein, dass wir auch in Zukunft genügend Richterinnen und Richter haben. Zweitens muss erreicht werden, dass die Richterschaft durch eine Technik, die den Erfordernissen des 21. Jahrhunderts entspricht, und durch qualifizierte Mitarbeitende des nichtrichterlichen Dienstes hochwertig unterstützt wird. Und drittens müssen die übrigen äußeren Arbeitsbedingungen stimmen.

 

Zusätzliche Stellen sind nicht Ihre Hauptforderung?

Natürlich brauchen wir Stellen in ausreichender Zahl. Und was die Stellenausstattung anbetrifft, so war die Entwicklung für den Richterbereich durchaus positiv. Schon in der letzten Legislaturperiode und noch mehr in der jetzigen haben wir in der ordentlichen Gerichtsbarkeit für stark belastete Bereiche wie Strafrecht, aber auch einige andere Bereiche, Zuwächse an Richterstellen verzeichnen können. Das ist eine gute Nachricht. Sie zeigt: Die Berliner Politik ist bereit, die Gerichte zu unterstützen. Mehr Stellen, insbesondere wenn sie sich nur auf den Richterbereich beschränken, sind aber nicht die Lösung, sondern nur ein erster Ansatz. Stellen arbeiten nicht von alleine. Der jeweiligen Gerichtsbarkeit helfen sie nur, wenn und solange sie mit Richterinnen und Richtern besetzt sind, die bei ihr tatsächlich im Einsatz sind. Es macht mir deshalb Sorge, wenn es bei einem Gericht wie dem Landgericht Berlin, dem mit zusätzlichen Stellen geholfen werden sollte, nicht gelungen ist, nicht nur die Zahl der Stellen, sondern auch die der dort eingesetzten Richterinnen und Richter substantiell zu erhöhen.

 

Der Senator behauptet, die Nachwuchsgewinnung sei kein Problem, die Absenkung der Einstellungsvoraussetzungen nur eine Formalie. Kommen die Kolleginnen und Kollegen bei Ihnen nicht an? Hat es zu wenige Neueinstellungen gegeben?

Auf den ersten Blick nicht. Die Einstellungszahlen sind hoch. Das Einstellungsverfahren wird bekanntlich von unserer Senatsverwaltung geleitet und vom Kammergericht als der künftigen Dienstbehörde der neuen Kolleginnen und Kollegen federführend mitgetragen. An den

Auswahlgesprächen sind die Strafverfolgungsbehörden und die Fachgerichte beteiligt. Die Gremien sind eingebunden. Alle, die an diesem Verfahren mitwirken, sind hoch engagiert machen einen großartigen Job. Das gilt nicht nur für die Auswahlentscheidungen, sondern auch im Vorfeld, wenn es darum geht, hochqualifizierte junge Juristinnen und Juristen für eine Bewerbung bei uns zu gewinnen.

Nur eine Schwäche hat unser Auswahlverfahren: Es dauert lange. Gegenüber anderen Ländern mit einem weniger aufwendigen Verfahren sind wir manchmal zweiter Sieger, und es fällt auf, dass selbst ausgewählte Bewerber nicht selten abspringen, weil ihnen inzwischen ein besseres oder jedenfalls schneller einzulösendes Angebot gemacht wurde.

Zudem merken wir, dass es außerhalb des Proberichterbereichs zunehmend schwieriger wird, die vorhandenen Stellen zu besetzen. So beklagen mehrere Gerichte meines Bereichs, dass sie über zu wenig junge R 1-Lebenszeitrichter verfügen, die dann auch einige Jahre in der Kammer oder Abteilung bleiben.

 

Wo sehen Sie Abhilfemöglichkeiten?

Ich bleibe erst einmal bei dem Proberichterbereich und unserem Auswahlverfahren. Ich glaube, wir müssen es verschlanken. Oder aber wir müssen für besondere Lagen ermöglichen, dass ausnahmsweise ohne Richterwahlausschuss entschieden werden kann oder mit diesem ein beschleunigtes Verfahren gefunden wird. Die Generalstaatsanwaltschaft hat solche Möglichkeiten für die Einstellung von Staatsanwälten zur Anstellung, und das hilft ihr.

Was den Bereich der Lebenszeitrichter anbetrifft, so stelle ich mir zunehmend die Frage, ob wir bei deren Einsatz nicht in einem Punkt grundsätzlich umdenken müssen. Bei der Justizreform um das Jahr 2005 haben wir stark auf Flexibilität gesetzt und entsprechende Anreize geschaffen. Das war in der damaligen Situation gut und richtig. Heute aber stellen wir fest, dass ein großer Prozentsatz gerade unserer R 1-Lebenszeitrichter zu Gerichten und Behörden außerhalb der eigenen Gerichtsbarkeit abgeordnet ist, und dies noch nicht einmal zur obergerichtlichen Erprobung oder zu einer Ersatzerprobung.

 

Meinen Sie, dass sich die Verwaltungsbereiche auf Kosten der Justiz „bereichern“? Für viele ist es aber eine Chance, sich zusätzlich zu bewähren, oft wird diese Zusatzqualifikation für die Beförderungschance gefordert.

Es ist ein gutes Zeichen, wenn unsere jungen Berliner R 1-Richterinnen und Richter vielerorts gefragt sind. Auch sind solche anderweitigen Einsätze für die Betreffenden häufig persönlich bereichernd. Doch müssen sie auf ein vernünftiges Maß reduziert werden. Und vor allem dann, wenn es um Beförderungen geht, muss klargestellt sein, dass die Kolleginnen und Kollegen nicht schlechter stehen, die in ihrer Gerichtsbarkeit verbleiben und sich damit unseren Kernaufgaben der Rechtsprechung und der Verwaltung der eigenen Gerichte widmen. Auch muss das Mögliche getan werden, um zu gewährleisten, dass Stellen von Kollegen, die über mehrere Jahre an auswärtige Bereiche abgeordnet sind, für Neueinstellungen genutzt werden können. Ich möchte mit der zuständigen Abteilung der Senatsverwaltung diskutieren, wie wir das Ziel verwirklichen können, dass Stellenverstärkungen, die die Politik für einzelne Gerichte beschlossen hat, auch dort ankommen.

 

Zurück zu der Frage, was für die weitere Zukunft der Berliner Justiz getan werden muss. Wie können wir Ihrer Ansicht nach die Leistungsfähigkeit der Gerichtsbarkeit dauerhaft sichern? Haben Sie ein Patentrezept?

Das Patenrezept lautet, für die Richterinnen und Richter einen Arbeitsplatz zu schaffen, der noch attraktiver ist als er heute ist, auch von den Rahmenbedingungen her. Dann werden wir dauerhaft genug Nachwuchs bekommen. Wenn unsere Richter aber schlecht besoldet sind, wenn sie keine ergonomische und auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene IT haben; wenn sie in Räumen arbeiten, in denen sie sich auf ihre Aufgabe nicht hinreichend konzentrieren können; wenn sie mangels qualifizierter Unterstützungskräfte alles selber machen müssen: dann werden sich junge hochqualifizierte Menschen bei der heutigen demografischen Situation nicht in ausreichender Zahl für uns entscheiden.

 

Was fordern Sie konkret?

Hieraus leite ich an diejenigen, die für meine Gerichtsbarkeit heute in Berlin Verantwortung tragen, folgende grundlegende Wünsche und Forderungen ab.

Stichwort Attraktivität der finanziellen Rahmenbedingungen: Durch die Besoldungsanpassungen der letzten Jahre ist unbestreitbar einiges für den Ausgleich der bisherigen Benachteiligungen der Berliner Richterschaft getan worden. Es muss aber beobachtet werden, ob dies angesichts der gerade für junge Leute steigenden Lebenskosten in Berlin ausreichend ist. Die darauf folgenden Anpassungen der Besoldung müssen ein kontinuierlicher Prozess werden und nicht erst erfolgen, wenn die die Besoldung verfassungsrechtlich kritisch wird. Und sollte das Bundesverfassungsgericht entscheiden, dass unsere Besoldung in den letzten Jahren verfassungswidrig niedrig war, müssen alle Benachteiligten gleichermaßen einen Ausgleich bekommen. Es darf nicht danach differenziert werden, wer wann welches Geltungsschreiben eingereicht hat.

Stichwort Räume, IT, Unterstützungskräfte: Die Raumsituation, sowohl was die Büros für die Kollegenschaft als auch die Säle betrifft, ist bedrückend. Sie führt beispielsweise in meinem Gericht, dem Kammergericht, zu Spaltungstendenzen zwischen den Richtern der verschiedenen Spruchkörper und zwischen dem richterlichen und dem nichtrichterlichen Dienst. Sie behindert den Ausbau der IT und den Aufbau der geplanten justizeigenen Beamtenausbildung für den Servicebereich. Es ist zu begrüßen, dass die Gewinnung neuer Justizstandorte (Saatwinkler Damm, Kathreinerhaus) durch die Senatsverwaltung für Justiz Fortschritte macht. Doch ist keiner dieser Standorte für die ordentliche Gerichtsbarkeit vorgesehen, und wir brauchen dringend Räume, die sofort verfügbar sind. Ich muss es ganz klar sagen: Wenn wir in der Raumfrage nicht schnell vorankommen, werden die Richterinnen und Richter das nicht nur an ihrem persönlichen Arbeitsplatz spüren. Wir werden dann weder eine schlagkräftige IT-Organisationseinheit haben noch werden wir die uns zugedachte Aufgabe als einer Ausbildungsbehörde für gut 600 Mitarbeitende allein für den Servicebereich erfüllen können. Richterinnen und Richter würden dann nicht nur in unzumutbaren Arbeitszimmern sitzen, sondern die Perspektive wäre, dass wir ihnen weder eine ausreichende IT-Unterstützung noch qualifiziert ausgebildete Mitarbeitende des nichtrichterlichen Dienstes sichern könnten.

Stichwort Einstellungsverfahren: Die Einstellungszahlen müssen kontinuierlich hochgehalten werden. Dazu gehören, wie ich bereits gesagt habe, eine Verschlankung des Verfahrens und ein dauerhaft ausreichendes Stellenniveau. Man muss endlich sehen, dass die Arbeit der Richterschaft nicht nur dort mehr wird, wo es höhere Eingangszahlen gibt. Eine komplexe Gesellschaft in einer vernetzten Welt liefert den Gerichten überall komplexe und schwierige Verfahren, und die Anforderungen an die rechtliche Durchdringung werden immer höher, bis hin zu den Amtsgerichten.

 

Klare Worte in Richtung Senatsverwaltung! Aber lassen Sie uns zum Schluss den Blick auf uns richten. Was können die Kolleginnen und Kollegen tun?

Die Gewinnung von Nachwuchs ist nicht nur eine Angelegenheit der Personen, die an einem Einstellungsverfahren beteiligt sind. Nachwuchsgewinnung geht jede Richterin und den Richter etwas an. Sie beginnt bereits bei der Referendarausbildung, weil der Großteil der neu Eingestellten in unserem Beruf in Berlin das Referendariat gemacht hat. Sie endet nicht mit der Einstellung, sondern es geht mehr als in früheren Jahren auch darum, junge Kolleginnen und Kollegen bei uns zu halten. Deshalb meine Bitte an Ihre Leserinnen und Leser: Werben Sie offensiv  bei jungen Menschen, etwa ihren Referendarinnen und Referendaren oder, wenn Sie Kontakte zu Universitäten haben, schon bei Studierenden für unseren Richterberuf. Teilen Sie, natürlich ohne etwas schönzufärben, das mit, was sich aus nahezu allen Umfragen des Deutschen Richterbunds ergibt: dass Sie und die klare Mehrzahl in der Kollegenschaft gerne ihren Beruf ausüben. Wenn dies geschieht und die von uns geforderten Verbesserungen der Rahmenbedingungen dazu kommen, mache ich mir keine Sorgen für die Zukunft unserer Gerichte.

 

Lassen Sie uns in ein, zwei Jahren Revue passieren. Herzlichen Dank für die offenen Worte!