„Gesunde Geschäftsverteilung“- Gesundheits- und betriebliches Eingliederungsmanagement in der Präsidiumsarbeit

 

Gesundheitsmanagement in der Präsidiumsarbeit ist ein Thema, das gelebt wird, oftmals ohne, dass es den Akteuren bewusst ist. Es ist gewinnbringend, sich damit auseinanderzusetzen.

Gerichtspräsidien regeln nach § 21e Abs. 1 GVG unter anderem die Vertretung und verteilen die Geschäfte. Zu ihren Aufgaben gehört folglich, mit krankheitsbedingten Ausfällen von Richterkollegen umzugehen. Es gilt, Kammern zu sperren, Bestände umzuverteilen oder Sondervertretungen einzurichten. Aber welche Maßnahme ist die im Einzelfall geeignete? Wie lange ist der Kollege denn überhaupt noch dienstunfähig? Ist dem Sondervertreter die Vertretung weiter zumutbar, oder sollten die Bestände des Dezernats – möglicherweise auch im Hinblick auf die Verfahrensdauer – umverteilt und ggf. die Kammer aufgelöst werden? Und wird der erkrankte Kollege bei seiner Rückkehr mit einem vollen Dezernat beginnen oder im Wege des Hamburger Modells einsteigen?

Ohne Zweifel wird jedem Präsidium daran gelegen sein, die Geschäfte verantwortungsvoll zu verteilen und dabei das Recht der Beteiligten auf einen Verfahrensabschluss in angemessener Zeit im Blick behalten. Auch bei der Regelung von Vertretungsfällen muss ein Gerichtspräsidium stets die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung vor Augen haben. Dabei dürfte es über ein Standardrepertoire an Maßnahmen verfügen und wird nicht in jedem Vertretungsfall das Rad neu erfinden müssen.

Dennoch sei davor gewarnt, den Einzelfall aus dem Blick zu verlieren. Denn für den über einen längeren Zeitraum erkrankten Kollegen ist diese Situation eine besondere, häufig vor allem eine besonders belastende: Neben der Sorge um die eigene Gesundheit und die Ungewissheit über das verbliebene Leistungsvermögen treibt ihn die Unsicherheit um, wie er nach längerer Abwesenheit empfangen wird. Viele haben ein schlechtes Gewissen, die Kollegen durch die notwendige Vertretung belastet zu haben. Hinzu kommt das Unbehagen, Gegenstand des Flurfunks gewesen zu sein („Hast du schon gehört..?“, oder aber: „Warum macht er aus seiner Erkrankung so ein Geheimnis?)“, bisweilen sogar die Angst, aufgrund einer z. B. psychischen Erkrankung stigmatisiert und von weiteren Karrierechancen ausgeschlossen zu werden. Häufig resultiert hieraus ein Fremdeln bei Rückkehr nach einer längeren Erkrankung. Es gibt also zahlreiche psychosoziale Aspekte, die einen über die bloße verwaltungstechnische Organisation hinausgehenden Umgang mit der langfristigen Erkrankung eines Kollegen erfordern.

Aber warum ist es für das Präsidium überhaupt von Interesse, wie der erkrankte Kollege es findet, was in seiner Abwesenheit mit seinem Dezernat geschieht und wie er sich nach Rückkehr fühlt? Weil nur die fürsorgliche Präsidiumsarbeit die langfristige Aufgabenerfüllung gewährleistet!

Unabhängig davon, dass jeder Beschäftigte kollegiale Unterstützung, ein soziales, gesundheitsförderndes und motivierendes Arbeitsumfeld verdient, ist es für einen Arbeitgeber gewinnbringend, in die Rehabilitation seiner Mitarbeitenden zu investieren, um die Arbeitsfähigkeit langfristig und nachhaltig zu sichern. Deshalb steht es dem Gerichtspräsidium gut an, nicht nur die Langzeiterkrankung im Hinblick auf Geschäftsverteilung und Vertretung zu verwalten, sondern von vornherein Bedingungen zu schaffen, die dem erkrankten Kollegen eine leistungsgerechte und motivationsfördernde Rückkehr ermöglichen.

Voraussetzung hierfür ist eine sensible Kommunikation durch Führungskräfte, die neben den organisatorischen Anforderungen auch die psychosozialen Aspekte von Langzeiterkrankungen im Blick haben. Diese besonderen Anforderungen an einen fürsorglichen Umgang mit den Betroffenen gelten gleichermaßen für die Präsidiumsmitglieder, die die Geschäftsverteilung zu gestalten haben.

Was kann das Präsidium konkret unternehmen, um dem gerecht zu werden?

Natürlich kann sich jeder einzelne, der an der Präsidiumsarbeit mitwirkt, Kompetenzen im Umgang mit langzeiterkrankten Kollegen aneignen, z. B. durch Fortbildungen oder eine bereits (vor)gelebte Kultur der zugewandten und vertraulichen Kommunikation sowie Fürsorge im Präsidium, dem er angehört. Das Präsidium kann sich aber auch eines besonderen Ansprechpartners bedienen, zu dessen Aufgaben gerade der Umgang mit erkrankten Kollegen gehört: des Beauftragten für das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM). Das BEM-Verfahren bietet insbesondere für die mit Langzeiterkrankungen verbundenen psychosozialen Fragen einen vertrauensvollen Rahmen, den das Präsidium im Einverständnis aller Beteiligten für sich fruchtbar machen kann.

Die Einbindung des BEM-Beauftragten bietet mehrere Vorteile:

Information

Der BEM-Beauftragte kann als Informationsmittler zwischen Präsidium und erkranktem Kollegen dienen. Oft ist die Informationslage über die Situation des Erkrankten dürftig. Regelmäßig wird die Gerichtsleitung Kontakt mit dem erkrankten Kollegen und Kenntnis über die voraussichtliche Dauer seiner Dienstunfähigkeit haben. Und selbstverständlich ist es in besonderer Weise sinnvoll, den Betroffenen selbst zu seiner Situation zu befragen, sofern die Art der Erkrankung dies zulässt. Allerdings: Jeder geht anders mit Krankheiten um, der eine weiß die Vertretung seines Dezernats vielleicht gerne gut geregelt, der andere möchte sich auf seine Genesung konzentrieren und am liebsten so wenig wie möglich mit anderen Dingen befasst werden. Und nicht jeder möchte mit jedem über so höchstpersönliche Angelegenheiten wie die eigene Gesundheit sprechen. Von manchem wird gerade der Kontakt mit der Gerichtsleitung als belastend empfunden, weil er Erwartungsdruck vermutet. Ein Gespräch mit dem BEM-Beauftragten fällt einigen Kollegen sicher wesentlich leichter.

Kommunikation

Der Umgang mit langzeiterkrankten Kollegen fällt naturgemäß schwer: Niemand möchte es an Feingefühl, Empathie, Rücksichtnahme und Diskretion mangeln lassen. Für den BEM-Beauftragten gehört die – im besten Fall geschulte – kommunikative Kompetenz zu seinem Anforderungsprofil.

Vertraulichkeit

Es ist das gute Recht jedes einzelnen Kollegen, über seine Krankheit zu berichten oder lieber gar kein Wort darüber zu verlieren. Der BEM-Beauftragte wird ausschließlich solche Informationen von dem betroffenen Kollegen weitergeben, die dieser tatsächlich offenbaren möchte, im besten Fall beschränkt auf genau diejenigen Informationen, die das Präsidium für seine Aufgabenerfüllung unbedingt benötigt. Im Übrigen ist er qua Amtes zur absoluten Vertraulichkeit verpflichtet.

Beratung

Häufig fällt es erkrankten Kollegen schwer, ihre Bedürfnisse zu formulieren oder auch nur zu erkennen, nicht zuletzt deshalb, weil sie die Möglichkeiten des Präsidiums unterschätzen oder z. B. auch das Hamburger Modell nicht kennen. Einige empfinden es als belastend, wenn ihr Dezernat über längere Zeit vertreten wird, und wünschen sich insgeheim dessen Auflösung; andere motiviert die Perspektive, ihr Dezernat so schnell wie möglich zurückzuerlangen. Da der BEM-Beauftragte über Erfahrung im Umgang mit Langzeiterkrankung verfügt, die dem erkrankten Kollegen mangels Vergleichsfällen regelmäßig fehlt, ist er dazu in der Lage, dem Betroffenen beratend zur Seite zu stehen. Er kann den Kollegen unterstützen, eine realistische Einschätzung seiner aktuellen Arbeitsfähigkeit und Belastbarkeit zu gewinnen, und ihn ggf. vor sich selbst, nämlich vor seinem schlechten Gewissen, so lange gefehlt zu haben, und vor seinem Impuls, alles sofort aufholen und nacharbeiten zu müssen, schützen.

Neutralität

Die Wünsche eines langzeiterkrankten Kollegen stehen natürlich immer unter dem Vorbehalt des für das Präsidium Machbaren. Darüber, was unter den Aspekten der gerechten und verantwortlichen Aufgabenerfüllung machbar ist, bestehen aber im Präsidium oft genug Differenzen. Der BEM-Beauftragte hat insoweit eine neutrale Rolle und kann dementsprechend die Kommunikation und Beratung mit dem betroffenen Kollegen ergebnisoffen gestalten.

Gesundheitsmanagement in der Präsidiumsarbeit ist ein Thema, das gelebt wird, oftmals ohne, dass es den Akteuren bewusst ist. Es ist gewinnbringend, sich damit auseinanderzusetzen. Nicht nur, weil es dem betroffenen Kollegen in einer für ihn belastenden Situation individuell nutzt, sondern auch, weil es langfristig die Motivation, das Wohlbefinden am Arbeitsplatz und damit die Leistungsfähigkeit steigert. Daher ist es nicht nur sozial, sondern auch klug, im Erkrankungsfall achtsam mit dem Kollegen umzugehen, ihm für die Wiedereingliederung Brücken zu bauen, statt ihn mit Bergen liegengebliebener Arbeit zu empfangen. Jeder kann in die Situation kommen, länger zu erkranken: Sorgen wir für uns!

 

Dr. Gabriele Schumann