EuGH zur richterlichen Unabhängigkeit in Hessen: Blick über den Tellerrand

Die Umstände, wie Richter in Hessen, aber auch in den anderen Ländern und auf Bundesebene ernannt werden, dürften aus unionsrechtlicher Perspektive keinen erheblichen Bedenken im Hinblick auf deren Unabhängigkeit ausgesetzt sein.

 

Der EuGH hat mit Urteil vom 9. Juli 2020 (C-272/19) entschieden, dass der Petitionsausschuss des hessischen Landtags unter die Bestimmungen der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) fällt. Interessant ist die Entscheidung aber vor allem in anderer Hinsicht: Denn der EuGH hatte Gelegenheit, stellvertretend für viele weitere Gerichte in Deutschland über die Unabhängigkeit des Verwaltungsgerichts Wiesbaden zu befinden. Das Verwaltungsgericht hatte Zweifel an seiner eigenen Unabhängigkeit und somit an seiner Eigenschaft als „Gericht“ im Sinne des Unionsrechts (Art. 267 AEUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 Grundrechtecharta) geäußert, was aber Voraussetzung ist, um die Vorlagefrage zur DSGVO überhaupt stellen zu können.

Die Zweifel des Verwaltungsgerichts beruhen unter anderem darauf, dass Richter in Hessen vom Hessischen Ministerium der Justiz ernannt und befördert werden. Der EuGH erläuterte dazu, dass der bloße Umstand, dass die Legislative oder die Exekutive im Verfahren der Ernennung eines Richters tätig werden, nicht geeignet sei, eine Abhängigkeit dieses Richters ihnen gegenüber zu schaffen oder Zweifel an seiner Unparteilichkeit aufkommen zu lassen, wenn der Betroffene nach seiner Ernennung keinerlei Druck ausgesetzt ist und bei der Ausübung seines Amtes keinen Weisungen unterliegt. Die Umstände, wie Richter in Hessen, aber auch in den anderen Ländern und auf Bundesebene ernannt werden, dürften daher aus unionsrechtlicher Perspektive keinen erheblichen Bedenken im Hinblick auf deren Unabhängigkeit ausgesetzt sein. Die Entscheidung hat aber auch über Deutschland hinaus Bedeutung.

Richtet man den Blick über die Grenze nach Polen, trifft man dort auf einen Landesjustizrat, der für die Auswahl von Richtern zuständig ist und seinerseits vom polnischen Parlament nach politischen Kriterien ernannt wird, also selbst nicht unabhängig ist. Dieser Umstand beschäftigt den EuGH in mehreren Verfahren, beispielsweise im Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission gegen Polen (C-791/19). Das Verfahren hat  u.a. die mit den Justizreformen geschaffene und heftig umstrittene Disziplinarkammer des Obersten Gerichts zum Gegenstand, die ausschließlich mit vom Landesjustizrat ausgewählten Richtern besetzt ist. Zwar dürfte allein die Auswahl durch ein politisch abhängiges Gremium der jetzigen Entscheidung des EuGH zufolge keine durchgreifenden Bedenken an der Unabhängigkeit der auf diese Weise ins Amt gehobenen Richter begründen. Die Disziplinarkammer könnte also als „Gericht“ im Sinne des Unionsrechts anzuerkennen sein. Das bedeutet aber nicht mehr als einen letztlich unbedeutenden Etappenerfolg für die polnische Regierung bei der Verteidigung ihrer Reformen. Diese verweist regelmäßig darauf, dass die Richterwahlen in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, so etwa in Deutschland, ebenfalls nicht frei von politischem Einfluss seien, weil etwa Justizministerien oder Richterwahlausschüsse über die Auswahl entschieden.

Deutlich schlechter bestellt steht es aber um die Position der polnischen Regierung, soweit der EuGH den Fokus auf die Wirkungsphase der Richter legt. Hier dürfen Richter keinerlei Druck ausgesetzt sein und keinen Weisungen unterliegen. Im Fall des Verwaltungsgerichts Wiesbaden hat der EuGH insofern keine Bedenken. Polen hat damit allerdings zunehmend ein Problem. Der auf polnischen Richtern lastende Druck, "richtig" im Sinne der PiS-Partei zu entscheiden, wächst zusehends. Eine weitere Verschlechterung hat die Situation der dortigen Richter durch das im Januar dieses Jahres in Kraft getretene sog. Maulkorbgesetz erfahren. Das neue Gesetz erweitert den Begriff des Disziplinarvergehens und erhöht dadurch potentiell die Zahl der Fälle, in denen der Inhalt gerichtlicher Entscheidungen als Disziplinarvergehen eingestuft werden kann. Außerdem verleiht es der neuen Kammer für außerordentliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts die alleinige Zuständigkeit, über Fragen der richterlichen Unabhängigkeit zu entscheiden. Die Intention dürfte sein, weitere an den EuGH gerichtete Vorlagefragen, die diese Frage betreffen (bisher u.a. C-585/18, C-624/18 und C-625/18), zu verhindern, indem den vorlegenden Richtern Disziplinarverfahren in Aussicht gestellt werden. Die Europäische Kommission hat deshalb im April dieses Jahres ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Ebenfalls im April hat die Kommission beim EuGH eine einstweilige Verfügung erwirkt, wonach die Disziplinarkammer ihre Tätigkeit bis zur Entscheidung in der Hauptsache ruhen zu lassen habe. Trotz der Ankündigung der polnischen Regierung dieser Aufforderung nachzukommen, blieb die Kammer aber weiterhin tätig.

 

Dr. Christoph Rollberg