Der EU-Gesetzgeber hat erkannt, dass auch Väter und andere zweite Elternteile nach der Geburt zu Hause gebraucht werden.
Der EU-Gesetzgeber hat erkannt, dass auch Väter und andere zweite Elternteile nach der Geburt zu Hause gebraucht werden.
Die EU will deshalb frisch gebackene Eltern entlasten und ihnen durch eine zweiwöchige Freistellung nach der Geburt mehr gemeinsame Zeit mit dem Baby verschaffen. Deutschland und auch Berlin ziehen bislang allerdings nicht mit.
Direkt nach der Geburt herrscht in vielen Familien erst einmal Ausnahmezustand: Die Geburt muss physisch und psychisch verarbeitet, Geburtsverletzungen gepflegt, das Wochenbett erduldet und das Baby rund um die Uhr versorgt werden. Ältere Geschwister können die Lage im Wochenbett noch zusätzlich verschärfen. Die Betreuung und Pflege von Kindern stellt oft einen Kraftakt dar. Daneben braucht es Zeit, um eine Bindung zu dem eigenen Kind aufzubauen und dessen individuelle Bedürfnisse besser kennenzulernen. Wird die derzeitige Rechtslage diesen Anforderungen gerecht?
Die Ausgangslage
In Sachen Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist die deutsche Bilanz im europäischen Vergleich bislang eher mittelmäßig.
Bezahlte Elternzeit: So gewährt Deutschland zwar bis zu 14 Monate bezahlte Elternzeit, wenn beide Elternteile mindestens zwei Monate davon übernehmen. Mit bis zu 65 % des bisherigen Gehalts, maximal 1.800,00 €, ist auch das Elterngeld in dieser Zeit recht großzügig bemessen. Europäische Spitzenreiter sind jedoch Länder wie Finnland und Rumänien, die bis zu zwei Jahre Elternzeit bei bis zu 85 % des bisherigen Lohns anbieten.[1]
Mutterschutz: Daneben gewährt Deutschland auch Mutterschutz. Dieser dauert in der Regel sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt, insgesamt mithin 14 Wochen (bei voller Lohnfortzahlung). Lediglich in Kroatien (bei 100 Prozent des Gehalts) und Schweden (bei 80 Prozent des Gehalts) wird in der EU genauso wenig Mutterschutzzeit gewährt. Die meisten anderen im Mittelfeld liegenden Länder sehen 16 bis 18 Wochen vor.[2] Sie bieten allerdings nicht alle einen vergleichbaren, sich an den Mutterschutz anschließenden Anspruch auf bezahlte Elternzeit. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der achtwöchige nachgeburtliche Mutterschutz auch in Deutschland zumindest auf die bezahlten Elternzeitmonate angerechnet wird.
Keine Freistellung zweiter Elternteile: Keinerlei Schutz genießen in Deutschland dagegen Väter und andere zweite Elternteile direkt nach der Geburt - ganz im Gegensatz zu vielen anderen EU-Ländern, die den Bedarf erkannt und einen entsprechenden Freistellungsanspruch inzwischen gesetzlich verankert haben.[3]
Das Land Berlin gewährt seinen Dienstkräften zumindest einen Arbeitstag Sonderurlaub (Ziffer 1.1 AV Sonderurlaubsverordnung). Wer nach der Geburt gerne mehr als nur einen Arbeitstag zuhause bleiben möchte, muss entweder Erholungsurlaub beantragen oder alternativ - spätestens sieben Wochen vor dem errechneten Geburtstermin - Elternzeit beim Dienstherrn anmelden. Dies ist problematisch.
Europarechtswidrig?
Zum einen setzt sich Deutschland damit möglicherweise in Widerspruch zu geltendem EU-Recht. So sieht die EU-Vereinbarkeitsrichtlinie 2019/1158 in Artikel 4 Abs. 1 S. 1 ausdrücklich eine zehntägige bezahlte Freistellung vor.[4] Deutschland hat diese bei der Umsetzung der Richtlinie im Dezember 2022 nicht mit in nationales Recht überführt. Die Bundesregierung berief sich dabei auf die Öffnungsklauseln in Artikel 20 Abs. 6, 7 der Richtlinie und argumentierte, dass die bestehenden Regelungen zu Elternzeit und Elterngeld ein ausreichendes Schutzniveau böten. Diese Interpretation ist umstritten. Ein Vater hat die Bundesrepublik Deutschland inzwischen wegen der nicht erfolgten Umsetzung auf Schadensersatz verklagt.[5] Werdenden Vätern und anderen zweiten Elternteilen empfehlen wir deshalb, für die Zeit ab der Geburt vorsorglich einen Antrag auf Bewilligung der zehntägigen Freistellung zu stellen und nur hilfsweise auf Bewilligung von Erholungsurlaub.
Eine partnerschaftliche Notwendigkeit
Zum anderen aber besteht jedenfalls aus gesellschaftspolitischer Sicht Handlungsbedarf. Die geburtsbedingte Freistellung wird zurecht von vielen als wichtiges gleichstellungspolitisches Instrument betrachtet, das insbesondere die Beteiligung von Vätern an der Sorgearbeit fördert und positive Auswirkungen auf die Gesundheit und die Arbeitsteilung in Familien hat.[6] Auch die Ampel-Parteien waren sich einig, dass es der Einführung einer bezahlten Freistellung bedarf - die Koalition zerbrach dann aber vor der Umsetzung.[7]
Der Bedarf wird durch die bestehenden Regelungen zu bezahlter Elternzeit auch nicht bereits hinreichend gedeckt. Da sich die Freistellung in Ausgestaltung und Zielrichtung von der bezahlten Elternzeit unterscheidet, geht von ihr eine andere Signalwirkung aus:
Fazit
Während moderne Familienmodelle zunehmend auf Gleichberechtigung und geteilte Verantwortung setzen, hinken die gesetzlichen Regelungen in Deutschland und Berlin bislang hinterher. Angesichts des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels kann eine partnerschaftlich gerechte Betreuung eines Säuglings nicht mehr als Privatvergnügen von Familien begriffen werden. Das Land Berlin sollte daher die Einführung einer mindestens zehntägigen bezahlten Freistellung für Väter und andere zweite Elternteile in Betracht ziehen. Der Gedanke, Vätern nach der Geburt ihres Kindes Zeit für Familie und Bindung zu ermöglichen, ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch des gesellschaftlichen Fortschritts. Indem der Berliner Dienstherr bislang lediglich einen Tag Sonderurlaub gewährt, leistet er alten Rollenverständnissen Vorschub. Dabei sollte gerade die Berliner Justiz mit einem Frauenanteil von mehr als 55 %[11] gesteigerten Wert darauf legen, dass sich Männer von Anfang an stärker an der Kinderbetreuung und -erziehung beteiligen.
[1]https://www.tagesschau.de/ausland/mutterschutz-elternzeit-eu-101.html
[2]https://www.ovb.eu/blog/artikel/mutterschutz-und-elternzeit-in-europa-wo-sind-die-bedingungen-am-besten.html
[3]https://www.wiwo.de/erfolg/beruf/zehn-tage-frei-fuer-vaeter-vaterschaftsurlaub-welche-laender-am-grosszuegigsten-sind/28570198.html
[4] “Die Mitgliedstaaten ergreifen die notwendigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Väter oder – soweit nach nationalem Recht anerkannt – gleichgestellte zweite Elternteile, Anspruch auf zehn Arbeitstage Vaterschaftsurlaub haben, der anlässlich der Geburt des Kindes des Arbeitnehmers genommen werden muss. [...]”
[5]https://www.brigitte.de/leben/recht-auf-vaterschaftsurlaub--ein-vater-verklagt-deutschland-13779722.html
[6] Vgl. bspw. https://www.bmfsfj.de/resource/blob/198386/c28b9679bd486174ea5f15a536cc4e62/deutscher-gewerkschaftsbund-dgb-data.pdf; vgl. auch https://verfassungsblog.de/vater-in-waiting/
[7] Im Koalitionsvertrag der 20. Wahlperiode (SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP) hieß es dazu (S. 79): „Wir werden eine zweiwöchige vergütete Freistellung für die Partnerin oder den Partner nach der Geburt eines Kindes einführen. Diese Möglichkeit soll es auch für Alleinerziehende geben.”
[8]https://familienportal.de/familienportal/familienleistungen/elterngeld/faq/wie-lange-kann-ich-elterngeld-bekommen--124728
[9]https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/familie/familienleistungen/neuregelungen-beim-elterngeld-fuer-geburten-ab-1-april-2024-228588
[10]https://familienportal.de/familienportal/familienleistungen/elterngeld/faq/wie-kann-ich-elterngeld-beantragen--124762
[11]https://www.lto.de/recht/justiz/j/frauen-in-der-justiz-berlin-55-prozent