Der „Pakt für den Rechtsstaat“ – eine Mogelpackung

 

Die Lage der Berliner Justiz könnte besser sein.

 

Ausgangslage

Die Lage der Berliner Justiz könnte besser sein. Es fehlen nicht nur Stellen, sondern mittlerweile auch eine ausreichend große Anzahl von geeigneten Bewerbern um diese Stellen für eine echte Bestenauslese. Sind Stellen besetzt, fehlen mitunter Räume für die Bediensteten. Sind Räume vorhanden, lassen Zustand und Ausstattung nicht selten zu wünschen übrig. Diese und andere Missstände wirken sich naturgemäß auf die Leistung der Bediensteten der Berliner Justiz aus, denn eine hohe Arbeitslast und mäßige Arbeitsbedingungen sind der verantwortungsvollen Erledigung der Dienstgeschäfte durch Richter und Staatsanwälte nicht zuträglich. Die Auswirkungen der Missstände auf die Leistung könnten gewiss geringer sein, ohne dass dafür viel Geld eingesetzt werdenmüsste und zusätzliche Stellen erforderlich wären, wenn sich nicht – ein weiterer Missstand – das Gebaren von Führungskräften immer wieder als „verbesserungsfähig“ erweisen würde.

Der Justizsenator dürfte all das – jedenfalls für die Zeit nach seinem Amtsantritt – ganz anders sehen, vielmehr in der Entwicklung der Berliner Justiz seit 2018 eine Erfolgsgeschichte erblicken. Auch die Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses verlieren die Lage der Justiz üblicherweise spätestens dann aus dem Blick, wenn ihre Parteien an einer Regierungskoalition beteiligt sind. Und in der öffentlichen Wahrnehmung spielt die Justiz nach wie vor kaum eine Rolle, sofern nicht gerade ein in die Öffentlichkeit gezerrter „Aufreger“ von der Presse entfacht wie ein Strohfeuer abbrennt.

 

Rettung durch den Bund?

Das Land Berlin steht nicht alleine da, sondern reiht sich in die Riege der Bundesländer ein, deren Gerichte und Staatsanwaltschaften von ähnlichen Sorgen geplagt sind. Was liegt da näher, als zumindest einige der Missstände gemeinsam mit den anderen Ländern oder sogar auf Bundesebene anzugehen?

Das könnten sich auch die Verantwortlichen der Parteien CDU, CSU und SPD gedacht haben, als sie am 14. März 2018 den Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags schlossen (Wortlaut hier). Dieser Koalitionsvertrag sieht – nicht gerade an vorderster Stelle – Folgendes vor (S. 123):

Wir werden den Rechtsstaat handlungsfähig erhalten. Dies stärkt auch das Vertrauen in die rechtsstaatliche Demokratie. Wir werden einen Pakt für den Rechtsstaat auf Ebene der Regierungschefinnen und -chefs von Bund und Ländern schließen.

Unter der Überschrift „Pakt für den Rechtsstaat“ werden sodann auf fünf Seiten Vorhaben aus den unterschiedlichsten Bereichen behandelt, so dass sich auch wirklich jedes Parteimitglied und jeder Lobbyist irgendwie berücksichtigt fühlen kann: Musterfeststellungsklage, Verbraucherschutzverfahren, Strafverfahrensrecht, sonstiges Verfahrensrecht, „Digitales/Cybersicherheit“, „Keine Toleranz bei Wirtschaftskriminalität, Einbruchdiebstahl und Organisierter Kriminalität“, „Unternehmenssanktionen“, „Sicherheitsarchitektur/Operative Fähigkeiten“, Befugnisse der Sicherheitsbehörden. Einer der Unterpunkte – sogar der erste – ist mit „Justiz“ überschrieben und beginnt wie folgt (S. 123):

Bestandteil dieses Paktes sind 2000 neue Richterstellen bei den Gerichten der Länder und des Bundes sowie entsprechendes Folgepersonal. Die Länder haben mit der Ausweitung des Justizpersonals bereits begonnen.

Als rechtlich nicht völlig unbedarfter Leser fragte man sich im März letzten Jahres, wie der Bund neue Stellen für Richter bei den Gerichten der Länder schaffen wollte – und das in ganz erheblicher Anzahl, denn 2.000 neue Richter für die Bundesgerichte sind sicherlich nicht erforderlich. Man fragte sich auch, warum allein Richterstellen geschaffen werden sollten, obwohl doch bekanntermaßen die Staatsanwaltschaften personell nicht besser dastehen. Nach dem Lesen des nur zwei kurze Absätze umfassenden Unterpunkts „Justiz“ konnte man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass die Absichtsbekundung zur Schaffung neuer Richterstellen ebenso wenig durchdacht, wie der Lage der Justiz überhaupt Beachtung geschenkt worden war. Unklar blieb auch die Bedeutung der sprachlich missglückten Feststellung, dass die Länder mit der „Ausweitung des Justizpersonals“ – gemeint war wohl die Schaffung neuer Stellen – bereits begonnen hätten.

 

Beschluss vom 31. Januar 2019

Mit einiger Verzögerung ist der im Koalitionsvertrag vorgesehene Pakt dann tatsächlich beschlossen worden. Am 31. Januar 2019 kam es in Berlin zu einer Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder im Anschluss an eine der regelmäßig stattfindenden Ministerpräsidentenkonferenzen (MPK). Bei dieser Besprechung wurde unter Tagesordnungspunkt 3 ein als „Pakt für den Rechtsstaat“ bezeichneter Beschluss gefasst (voller Wortlaut). Er umfasst die Bereiche „Personalaufbau“, „Digitalisierung“, „Verfahren“, „Opferschutz“, „Qualitätssicherung in der Rechtspflege“ und „Offensive für den Rechtsstaat“. Unter „Personalaufbau“ wird die Schaffung neuer Stellen beim Bundesgerichtshof, der Bundesanwaltschaft und den Polizeibehörden von Bund und Ländern vereinbart und nicht zuletzt bei den Justizbehörden der Länder:

Im Rahmen ihrer Personalhoheit werden die Länder im Justizbereich im Zeitraum 1. Januar 2017 bis 31. Dezember 2021 insgesamt 2.000 neue Stellen für Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte (zuzüglich des dafür notwendigen Personals für den nicht-richterlichen und nicht-staatsanwaltlichen Bereich) schaffen und besetzen.

Die Umsetzung – und zugleich die Förderung der Länder durch den Bund – ist folgendermaßen geregelt:

Um den notwendigen besonderen Anforderungen zur Stärkung des Rechtsstaats im Rahmen dieses Paktes gerecht zu werden, stellt der Bund den Ländern einmalig Mittel in Höhe von 220 Mio. Euro (aufgeteilt auf zwei Tranchen) durch Festbeträge im Rahmen der vertikalen Umsatzsteuerverteilung zur Verfügung.

Sobald die Länder in ihrer Gesamtheit die vereinbarten 1.000 Stellen geschaffen und darüber einen Bericht vorgelegt haben, wird der Bund die für die erste Tranche 110 Mio. Euro notwendigen gesetzlichen Änderungen auf den Weg bringen

Die Umsetzung für die zweite Tranche 110 Mio. Euro soll auf der Grundlage eines zweiten Berichts erfolgen, in dem dokumentiert wird, dass die Ländergesamtheit im Zuständigkeitsbereich der Justiz ihrer Selbstverpflichtung zur Schaffung und Besetzung von insgesamt 2.000 Stellen für Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte bis zum 31. Dezember 2021 nachgekommen ist.

 

Schaffung 2.000 „neuer“ Stellen

Nun erklärt sich auch die Bedeutung der im Koalitionsvertrag enthaltenen Feststellung, dass die Länder bereits mit der „Ausweitung des Justizpersonals“ begonnen hätten. Es ging und geht gar nicht um die Schaffung neuer Stellen, sondern um die Bestimmung eines in der Vergangenheit liegenden Stichtags, ab dem geschaffene Stellen auf die 2.000 vorgesehenen „neuen“ Stellen angerechnet werden können. Diese 2.000 „neuen“ Stellen sind gemäß dem Pakt von den Ländern in ihrer Gesamtheit zu schaffen, damit der Bund die versprochenen 220 Mio. Euro bereitstellt.

Wie viele Stellen auf die einzelnen Länder entfallen, ist nicht Gegenstand der Vereinbarung. Setzt man die am 31. Dezember 2016 bestehenden Richter- und Staatsanwaltsstellen im Land Berlin (nach Haushaltsplan: 1.729,705) ins Verhältnis zu den Stellen aller Länder (nach Richterstatistik des Bundesamts für Justiz: 25.662,77), kommt man zu einem Anteil des Landes Berlin von rund 6,74 %. Das entspricht 134,8 der 2.000 Stellen. Es könnte aber auch der sogenannte Königsteiner Schlüssel herangezogen werden, den die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz für jedes Jahr erstellt, um das Verhältnis der Beteiligung der Länder an gemeinsamen Ausgaben festzulegen. Die im Elek-tronischen Bundesanzeiger veröffentlichten Zahlen für die Jahre 2017 und 2018 sehen für das Land Berlin einen Anteil von rund 5,1 % vor, was 102 der 2.000 Stellen entspricht.

Unter Zugrundelegung dieser Vomhundertsätze würden von der vom Bund in Aussicht gestellten Unterstützung in Höhe von 220 Mio. Euro dem Land Berlin 11,22 Mio. Euro bzw. 14,828 Mio. Euro zustehen. Um diesen Betrag besser einordnen zu können: Für das laufende Jahr 2019 sieht der Haushaltsplan der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung Personalausgaben in Höhe von gut 530 Mio. Euro vor und für den Erwerb beweglicher Sachen sind gut 13 Mio. Euro vorgesehen. Wunder sind also infolge der Förderung durch den Bund nicht zu erwarten.

 

Plan schon jetzt übererfüllt!

Unterstellt, das Land Berlin müsste in Anwendung des Königsteiner Schlüssels im Zeitraum vom 1. Januar 2017 bis zum 31. Dezember 2021 insgesamt 102 Stellen für Richter und Staatsanwälte schaffen bzw. bereits geschaffen haben, um stattliche 11,22 Mio. Euro vom Bund zu erhalten. Wie nah sind wir dem Ziel? Ein Blick in den auf der Internetseite der Senatsverwaltung für Finanzen veröffentlichten Doppelhaushalt 2016/2017 (mit Nachtrag für 2017) sowie den Doppelhaushalt 2018/2019, jeweils Einzelplan 06, hilft weiter.

Nach den Haushaltsplänen sind im Zeitraum vom 1. Januar 2017 bis zum 31. Dezember 2018 in der Berliner Justiz bereits 101 neue Stellen der Besoldungsordnung R geschaffen worden. Verteilt man die für das Jahr 2019 vorgesehenen 41 neuen Stellen gleichmäßig auf das Jahr, so entfallen auf den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 31. Januar 2019 – dem Tag, an dem der „Pakt für den Rechtsstaat“ beschlossen wurde –, weitere 3,48 Stellen. Mit anderen Worten: Legt man den Königsteiner Schlüssel zugrunde, dann hatte das Land Berlin wegen der seit dem 1. Januar 2017 neu geschaffenen Stellen für Richter und Staatsanwälte seine Verpflichtung aus dem „Pakt für den Rechtsstaat“ bereits erfüllt, als dieser Ende Januar beschlossen wurde.

Geht man demgegenüber von einer Verpflichtung des Landes Berlin entsprechend dem Verhältnis der Anzahl der Berliner Richter und Staatsanwälte zu denen aller Länder aus, würde das Land Berlin Ende Oktober 2019 Planerfüllung melden können.

Jedenfalls muss das Land in Sachen Stellenschaffung gar nichts mehr tun, um in den nächsten Jahren in den Genuss eines Zuschusses von Seiten des Bundes in überschaubarer Höhe von 11,22 Mio. Euro zu kommen. Mehr noch: Im anstehenden Doppelhaushalt 2020/2021 könnten sogar R-Stellen wieder gestrichen werden!

 

Ausblick

Mit der Bestimmung eines mehr als zwei Jahre zurückliegenden Stichtags, von dem an die im „Pakt für den Rechtsstaat“ vereinbarten 2.000 „neuen“ Stellen geschaffen werden sollen, haben sich Bund und Länder eine Hintertür offengehalten. Insbesondere dem Berliner Senat ist dadurch die Möglichkeit gegeben worden, sich unter Hinweis auf den in den letzten zwei Jahren unstreitig zu verzeichnenden Stellenaufwuchs zurückzulehnen. Für die Berliner Richter und Staatsanwälte erweist sich der Pakt somit in Sachen Neuschaffung von Stellen als wertlos, wenn nicht sogar als schädlich.

Die Lehre aus dieser „Mogelpackung für den Rechtsstaat“ ist, sich nicht von der öffentlichkeitswirksamen Ankündigung „neuer“ Stellen durch die unter Zugzwang stehenden Regierungen von Bund und Ländern blenden zu lassen. Maßgeblich für eine gute Justiz ist ohnehin nicht die Anzahl neu geschaffener Stellen, sondern – neben einer guten Justizverwaltung – eine ausreichende Anzahl von besetzten Stellen. Vorrangige Aufgabe muss es daher sein, Stellen entsprechend dem tatsächlichen Bedarf zu schaffen und mit den Besten zu besetzen. Dies wird der Landesverband Berlin des DRB im Interesse der Richter und Staatsanwälte auch weiterhin von Abgeordnetenhaus und Senat einfordern.

 

Dr. Udo Weiß