Der digitale Rechtsstaat braucht eine gemeinsame Vision

In diesem Artikel zeigt Alisha Andert ein zentrales Defizit bei der Digitalisierung des Rechtsstaats auf: Das Fehlen einer Vision, die alle Beteiligten verbindet

 

Als Innovationsberaterin für den Rechtsbereich begleite ich insbesondere Rechtsabteilungen und Kanzleien im Rahmen ihrer digitalen Transformationsprozesse. Ein typischer Arbeitsauftrag würde darin bestehen, für die Berufsträger:innen einer Kanzlei ein digitales Knowledge Management einzuführen, d.h. ein System zur Organisation und Verwaltung vorhandenen Wissens. Knowledge Management macht die Arbeit von Berufsträger:innen noch effizienter, weil sie bestehendes Wissen direkt zur Anwendung bringen können. Als Beraterin analysiere ich dann den Status Quo, schaue mir alle Prozesse, Ressourcen und involvierten Personen an und stelle häufig fest, dass für ein gutes Knowledge Management beste Voraussetzungen bestehen, da die Berufsträger:innen der Kanzlei einen großen Schatz an Wissen haben. Dieses besteht zunächst bei jedem und jeder einzeln, z.B. in Form von eigens erstellten Vorlagen für Gesellschafterverträge oder Stellungnahmen zu konkreten Rechtsfragen. Damit ist die Wissensbasis für ein gemeinsames System, von dem alle profitieren können, bereits da. Dennoch stellen wir immer wieder fest, dass solche Vorhaben scheitern. Denn die beteiligten Personen sind nicht bereit, ihr mühsam erarbeitetes Einzelwissen mit der Gemeinschaft zu teilen und für alle verfügbar zu machen. Als Berater:innen sprechen wir hier von einer Bunkermentalität, die zu Wissens-Silos innerhalb derselben Organisation führt. Warum sollte ich das, was ich mir hier hart erarbeitet habe, einfach zur freien Verfügung stellen? Für mich als Beraterin bedeutet dies, dass es nicht ausreicht, ein digitales System einzuführen, in welches Wissen eingepflegt werden kann, denn für eine erfolgreiche Umsetzung muss zunächst die zugrundeliegende kulturelle Herausforderung gelöst werden. Was den Personen hier fehlt, ist ein gemeinsames “Warum”, das es wert ist, dafür die Bunkermentalität zu opfern. Es fehlt das Gefühl, kollektiv auf eine gemeinsame Vision hinzuarbeiten.

Auch im Rahmen der digitalen Transformation unseres Rechtssystems können wir das Entstehen solcher Silos beobachten. Die unterschiedlichen Akteure, wie Anwaltschaft, Justiz, Legal Tech Unternehmen und Co., sind fleißig damit beschäftigt, sich in erster Linie um sich selbst zu drehen: partikuläre Digitalisierungsbestrebungen, Protektionismus, Liberalisierungstendenzen an unterschiedlichen Stellen. Gemeinsame Vision für einen digitalen Rechtsstaat? Fehlanzeige! Und dabei ist völlig klar, dass die durch die digitale Transformation der ganzen Gesellschaft ausgelösten Veränderungen alle Akteure betreffen und alles miteinander zusammenhängt. Natürlich beeinflusst das Verhalten von Verbraucherinnen und Verbrauchern, ihre Alltagsprobleme mit Hilfe des Internets zu lösen, das Mandatsaufkommen bei der Anwaltschaft. Selbstverständlich entstehen mit niedrigschwelligen Rechtsangeboten wie “wenigermiete.de” und Co. gesteigerte Kundenerwartungen an den Rechtsdienstleistungsmarkt. Und auch die Justiz ist unmittelbar betroffen, wenn es einem Legal Tech Unternehmen wie Flightright möglich ist, quasi per Knopfdruck hunderte Klagen gleichzeitig an die Gerichte zu senden. Alles hängt miteinander zusammen, denn die digitale Transformation ist ein Querschnittsthema.

Wie manch einer auf diese Entwicklungen reagiert, war kürzlich bei der Justizministerkonferenz zu sehen. Das Bayerische Justizministerium legte dort einen Antrag vor, nach dem der Gesetzgeber dazu aufgefordert werden sollte, eine Gesetzesreform zu Sammelklagen anzustoßen. Die massenhafte Geltendmachung von Forderungen aus dem Bereich Mieten, Flügen oder auch Diesel-Schäden würde laut des bayerischen Justizministers Georg Eisenreich zu einem unnötigen Verschleiß wertvoller Justizressourcen führen. Es seien daher Anpassungen notwendig, die “neben dem Prozessrecht insbesondere auch das materielle Recht, das Gebühren- und Kostenrecht und das Berufs- beziehungsweise Rechtsdienstleistungsrecht in den Blick nehmen".[1] Während ich den Frust der Justiz darüber verstehen kann, dass die Aktenberge größer und die Verfahren komplexer werden, sich aber gleichzeitig in Sachen interner Arbeitsentlastung durch Digitalisierung und Technologie wenig tut, bin ich dennoch davon überzeugt, dass dies nicht die richtige Antwort auf die Fragen der digitalen Transformation sein kann. Wenn wir nicht mehr hinterherkommen, sollen die Rechtsuchenden aufhören, zu klagen? So wird nicht das zugrundeliegende Problem gelöst.

Vielmehr wäre es wünschenswert, dass sich die Akteure unseres Rechtssystems zusammentun und die digitale Transformation als gemeinsame Reise begreifen. Diese Reise ist kein Sprint, für den man kurzzeitig seine Kräfte bündelt, sondern sie erfordert Durchhaltevermögen und Austausch. Damit man auf dem Weg nicht aufgibt, brauchen wir eine gemeinsame Vision, die uns zeigt, wo es hingehen kann. Wir brauchen ein “Warum”.

Wie wichtig das “Warum” für unser Handeln ist, stellte Simon Sinek, ein US-amerikanischer Autor und Unternehmensberater, eindrucksvoll in seinem berühmten TEDx-Talk “how great leaders inspire action”[2] dar. Dort beschreibt er, wie es Marken wie Apple schaffen, uns für ihre Produkte zu begeistern. Er sagt: “People don’t buy what you do. They buy why you do it”. Wir würden uns nicht nur für die Produkte von Apple entscheiden, weil sie schöne Computer machen. Sondern weil die Botschaft von Apple sei: “Wir glauben daran, dass man sich nie mit dem Status Quo zufriedengeben darf und diesen immer wieder in Frage stellen muss. Das tun wir, indem wir besonders schön designte und intuitiv nutzbare Computer herstellen. Es ist eher Zufall, dass wir ein Computerhersteller sind.” Sinek sagt also, dass Apple uns mit ihrem “Warum” in ihren Bann ziehen und nachhaltig begeistern kann.

Ein solches “Warum” scheint dem digitalen Rechtsstaat noch zu fehlen. Wie könnte dieses „Warum“ lauten? Was haben Richter:innen, Anwält:innen, Rechtsuchende davon? Solange die Antwort für die Gerichte nur “mehr Arbeit” heißt, wird sich kaum etwas tun. Verständlicherweise.

Eine Antwort auf diese Frage kann - davon bin ich überzeugt - nur gemeinsam und im Austausch gefunden werden. Das war einer der Gründe, weshalb wir, eine Gruppe von Gründer:innen und Rechtsanwält:innen, im Jahr 2020 den Legal Tech Verband Deutschland ins Leben gerufen haben. Ein Verband, der nicht etwa ausschließlich die Interessen einzelner Legal Tech Unternehmen vertritt, sondern sich bewusst allen Organisationen auf dem Rechtsmarkt geöffnet hat. Die digitale Transformation des Rechtssystems verläuft nicht entlang der Grenzen von Branchen und Akteuren. Umso wichtiger ist es, dass es eine gemeinsame Plattform gibt für die Fragen, die uns alle beschäftigen. Der Verband ist auf dem besten Weg zu dieser Plattform zu werden. Zu den Mitgliedern zählen neben Legal Tech Unternehmen auch Kanzleien, Rechtsschutzversicherungen, Software-Anbieter, Vermittlungsplattformen und Verlagshäuser. Die Themen sind vielfältig. Neben Arbeitsgruppen zu neuen Geschäftsmodellen im Rechtsmarkt, anwaltlichem Berufsrecht und “Legal Needs” (Erforschung des Rechtsberatungsbedarfs auf dem Rechtsmarkt) gibt es zum Beispiel auch eine Arbeitsgruppe “Digitale Justiz”. Diese hat zuletzt hunderte Rechtsanwält:innen zu ihren Wünschen bezüglich Videoverhandlungen vor Zivilgerichten befragt und eine entsprechende Stellungnahme[3] erstellt. Alle Gruppen arbeiten daran, die Zukunft des digitalen Rechtsstaats mit Leben zu füllen.

Bunkermentalität, Wissens-Silos und gegenseitige Angriffe oder Protektionismus werden uns nicht weiterbringen, wenn es um die digitale Transformation unseres Rechtssystems geht. Eine gemeinsame Vision schon.

 

Alisha Andert, LL.M. ist Mitgründerin der auf den Rechtsbereich spezialisierten Innovationsberatung This is Legal Design. In dieser Funktion berät sie u.a. Kanzleien und Rechtsabteilungen mit Blick auf nutzerzentrierte (digitale) Innovationen. Zudem ist sie Vorstandsvorsitzende des Legal Tech Verbands.

 

 


[1]www.sueddeutsche.de/bayern/justiz-muenchen-bayern-will-gesetzesaenderung-zu-massenklagen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-211110-99-941213.

[2]www.ted.com/talks/simon_sinek_how_great_leaders_inspire_action.

[3]www.legaltechverband.de/2021/09/13/stellungnahme-videoverhandlungen.