„Auch im Gefängnis“

Ein Beitrag des polnischen Richters Igor Tuleya, Richter am Warschauer Bezirksgericht.

 

Folgenden Auszug aus dem Editorial der Website www.verfassungsblog.de drucken wir mit freundlicher Genehmigung von Maximilian Steinbeis ab. Es handelt sich um einen Beitrag des polnischen Richters Igor Tuleya, Richter am Warschauer Bezirksgericht.

(…)Richter Igor Tuleya:

“Im Dezember 2016 fand im Unterhaus des polnischen Parlaments, dem Sejm, eine Abstimmung über den Haushalt unter merkwürdigen Umständen statt. Abgeordnete der Opposition wurden daran gehindert, an der Parlamentsdebatte teilzunehmen. Die Debatte wurde vom Plenarsaal in den so genannten Säulensaal (einen kleineren Sitzungssaal) verlegt. Die Oppositionsmitglieder wurden physisch daran gehindert, sich dem Podium zu nähern und somit das Wort zu ergreifen. All dies war von der Regierungspartei “Recht und Gerechtigkeit” im Voraus geplant worden. Mehrere Abgeordnete reichten Meldung ein, dass der Präsident des Sejm und seine untergeordneten Beamten eine Straftat begangen hätten. Die politisierten Staatsanwälte weigerten sich, den Fall zu untersuchen. Ein Jahr später ließen sie eine Beschwerde gegen diese Entscheidung zu. Die Staatsanwälte stimmten den Antragstellern zu, ordneten die Fortsetzung der Untersuchung an und informierten auch die Strafverfolgungsbehörden über die mutmaßliche Straftat, das die Führer der Partei Recht und Gerechtigkeit begangen haben könnten, nämlich dass sie bei ihren Aussagen Meineid geleistet haben.

Ich war der Richter in diesem Fall.

In den letzten fünf Jahren habe ich die Unabhängigkeit der Justiz und der Richter in Polen verteidigt. Ich kritisiere die Regierung öffentlich dafür, dass sie das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verletzt und die in der Verfassung verankerten Grundsätze nicht befolgt hat. Aus diesem Grund führen die Disziplinarkommissare, die dem Justizminister unterstehen, derzeit weitere sieben Verfahren gegen mich.

Fast drei Jahre nach dem “Säulenhallen-Fall” hat die Staatsanwaltschaft die sogenannte “Disziplinarkammer” des Obersten Gerichtshofs gebeten, meine richterliche Immunität aufzuheben. Sie behauptet, dass ich durch die Anordnung, die Untersuchung fortzusetzen, meine Amtspflichten verletzt, meine Befugnisse als Richter überschritten und Informationen aus dem eingestellten Vorbereitungsverfahren offengelegt und verbreitet habe. In der Tat ging ich offen vor und Journalisten nahmen an der Sitzung meines Gerichts teil. Dies ist jedoch nach der Strafprozessordnung voll und ganz zulässig. Ich habe keine Geheimnisse preisgegeben. Über die Sitzungen des Sejm wurde in den Medien berichtet, und das undemokratische Verhalten von “Recht und Gerechtigkeit” löste eine Welle sozialer Proteste aus, die die Polizei auf den Plan riefen.

Dann kam der 18. November 2020. Die “Disziplinarkammer” hob meine Immunität auf und suspendierte mich von meinen Dienstpflichten. Nach 25 Jahren hörte ich laut diesem Gremium auf, Richter zu sein. Mir droht eine Strafe von drei Jahren Gefängnis. Ich habe an der Anhörung vor diesem Gremium nicht teilgenommen. Die so genannte Disziplinarkammer ist kein unabhängiges Gericht, und ihre Mitglieder sind keine unabhängigen Richter. Die “Richter” sind ehemalige Staatsanwälte und mit der Exekutive verbundene Personen. Dies wurde vom Obersten Gerichtshof Polens festgestellt und durch die Entscheidung über die Anwendung der vorläufigen Maßnahmen des EuGH bestätigt. Dieses Gremium sollte überhaupt nicht tätig werden. Aus diesem Grund betrat ich nicht den Gerichtssaal, in dem das Verfahren stattfand. Hätte ich etwas anderes getan, hätte ich die Gesetzlosigkeit legitimiert. Ich tat es nicht und konnte es auch nicht tun.

Ich kündigte öffentlich an, dass ich nicht vor dem Ankläger erscheinen und mich nicht als Angeklagter vernehmen lassen würde. Ich tat dies nicht, um mich der Verantwortung zu entziehen, aber hätte ich weiterhin an dieser Farce teilgenommen, dann hätte ich die illegalen Aktivitäten der so genannten Disziplinarkammer akzeptiert. Was wird der Ankläger tun? Er wird mich zwangsweise vorladen oder vielleicht – mit dem Argument, dass ich das Strafverfahren behindere – meine Festnahme beantragen. Was werde ich tun? Professor Stanisław Zabłocki, ein ehemaliger Präsident des Obersten Gerichtshofs, einer anerkannten Autorität für alle Anwälte, hatte etwas biblisch an die polnischen Richter appelliert:  “Deine Worte seien: Ja, ja; nein, nein. Sie müssen konsequent sein. Klare Signale müssen an die Öffentlichkeit gegeben werden. Sie können nicht bloß passiv beobachten, was für schlimme Dinge mit dem polnischen Rechtssystem vor sich gehen”. Deshalb werde ich weiterhin die Wahrheit sagen und bis zum Ende, auch im Gefängnis, die Rechtsstaatlichkeit in Europa verteidigen. In Europa? Ja, denn mein Heimatland Polen ist immer noch in der Europäischen Union. Ich empfinde die Zerstörung des polnischen Justizsystems als eine Zerstörung Europas als einer Werte- und Rechtsgemeinschaft.

Ich danke den europäischen Juristen für all ihre Unterstützung. Sie ist rührend und außerordentlich wichtig für alle polnischen Richter. Aber was soll ich den europäischen Beamten und Politikern sagen? Ich verstehe, dass, so wie 1939 einige von ihnen nicht “für Gdańsk/Danzig sterben wollten”, heute einige von ihnen nicht für die Rechtsstaatlichkeit in Polen sterben wollen. Sie fahren also fort, die Lage zu erörtern und sich unterdessen zufrieden den blauen Himmel anzuschauen. Wenn ich im Gefängnis bin, werde ich das kaum tun können. Erinnern Sie sich also bitte an die Worte von Martin Luther King: Ungerechtigkeit an einem Ort bedroht die Gerechtigkeit überall.”

Steinbeis, Maximilian: Auch im Gefängnis, VerfBlog,2020/11/20, verfassungsblog.de/auch-im-gefangnis/, DOI: 10.17176/20201026-105810-0.

 

Offener Brief an die Europäische Kommission

In diesem Zusammenhang möchten wir auf einen offenen Brief der polnischen Richtervereinigung Iustitia aufmerksam machen, in welchem diese alle europäischen Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte darum bittet, einen Appell an die Europäischen Institutionen als Zeichen der Solidarität zu unterschreiben. Dieser Appell fordert die Europäische Kommission auf, konkrete Maßnahmen zur Einhaltung der unionsrechtlichen Verträge und der Entscheidungen des EuGHs zu ergreifen.

Der Link lautet: https://www.iustitia.pl/apel-do-komisji-europejskiej