§ 60 Abs. 2 GVG: Berliner Justizreform vollenden – drei selbständige Landgerichte für Berlin

Die Änderung des § 60 GVG gibt die Chance, die Justizreform auch für das Landgericht zu Ende zu denken. Der gesetzgeberische Aufwand für eine Dreiteilung des Berliner Landgerichts ist überschaubar.

Das Land Berlin ist in der Vergangenheit mit seiner Justiz, wie zuletzt etwa die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2020 zur Verfassungswidrigkeit weiter Teile der Berliner Richterbesoldung belegt, nicht immer besonders fürsorglich umgegangen. Aber in der Berliner Justizgeschichte hat es doch auch oftmals positive Entwicklungen gegeben, an die man sich gelegentlich erinnern sollte. Ein Beispiel hierfür ist die Berliner Justizreform, die durch das „Gesetz zur Schaffung dezentraler Verwaltungsstrukturen in der ordentlichen Gerichtsbarkeit“ vom 19. November 2004 umgesetzt worden ist. Nach einem breit angelegten und umfassenden Diskussionsprozess, in der die Schwachstellen der bisherigen Organisationsstruktur analysiert worden waren, hat der Landesgesetzgeber der ordentlichen Gerichtsbarkeit in der Stadt eine neue und ganz überwiegend sehr erfolgreiche Struktur gegeben.

Nicht allen wird die zuvor existierende Struktur noch geläufig sein: Vor der Justizreform bestanden in der ordentlichen Gerichtsbarkeit des Landes Berlin nur drei Präsidialgerichte, nämlich - neben dem Kammergericht und dem Landgericht - im Bereich der Amtsgerichte ausschließlich das Amtsgericht Tiergarten, das zugleich Mittelbehörde für die übrigen elf, von Direktorinnen und Direktoren geführten Amtsgerichte war. Das auf drei Dienststellen verteilte Landgericht wurde damals von einer einheitlich strukturierten Präsidialverwaltung mit einem Präsidenten und einem Vizepräsidenten an der Spitze mit Sitz am Tegeler Weg geführt.

Die Ablösung dieser Gerichtsstruktur durch die Justizreform war, auch wenn dieser Aspekt in der Gesetzesbegründung keinen Niederschlag gefunden hat, zugleich eine Abkehr von der durch die Nationalsozialisten nach ihrer Machtübernahme im Jahr 1933 geschaffenen zentralistischen Struktur der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Berlin. Das NS-Regime hatte durch das „Gesetz zur Umgestaltung des Gerichtswesens in Berlin“ vom 26. April 1933 die ordentliche Gerichtsbarkeit in der Stadt neu strukturiert. Die zuvor bestehenden drei Landgerichte (LG Berlin I, II und III) wurden zu einer organisatorischen Einheit mit einem Präsidenten an der Spitze zusammengefasst. Zugleich wurden die den vormaligen drei Landgerichtspräsidenten gegenüber den Amtsgerichten ihres jeweiligen Bezirks zustehenden mittelbehördlichen Befugnisse einheitlich dem Präsidenten des Amtsgerichts Berlin-Mitte übertragen. Diese 1933 etablierte Struktur der ordentlichen Gerichtsbarkeit hat dann den Krieg, die Teilung der Stadt und deren Wiedervereinigung im Wesentlichen unverändert überdauert, nur insoweit verändert, als dass die mittelbehördliche Funktion für die Amtsgerichte nach der Teilung der Stadt im Westteil und danach insgesamt durch den Präsidenten des Amtsgerichts Tiergarten wahrgenommen wurde.

Durch diesen Aufbau der Gerichtsverwaltungen wurden - so die Analyse in der Begründung des Justizreformgesetzes - zahlreiche auch aus anderen Verwaltungsbereichen bekannte Probleme hervorgerufen, u.a. etwa „schwerfällige Verwaltungsabläufe“, „ortsferne Entscheidungen“, „fehlende Kostenverantwortung“ und „nicht ausgeschöpfte Führungspotentiale“. Um dies zu überwinden, sollten dezentrale Verwaltungsstrukturen mit deutlich höheren eigenen Kompetenzen und größerer Ressourcenverantwortung geschaffen werden.

Das Ergebnis der Justizreform ist bekannt: Geschaffen wurden 12 (nach Schließung des AG Hohenschönhausen noch 11) präsidiale Amtsgerichte mit entsprechend erweiterten Kompetenzen. Es wird vermutlich wenig Widerspruch hervorrufen, wenn man diesen Teil der Justizreform als großen Erfolg bezeichnen will. Die Reform hat bei den Amtsgerichten nicht nur zu einer Optimierung der Verwaltungsabläufe geführt, sondern - zumindest aus meiner insoweit eingeschränkten landgerichtlichen - Sicht auch aufgrund der ortsnahen Entscheidungskompetenzen die Zufriedenheit der Bediensteten und deren Identifikation mit ihrem Gericht wesentlich erhöht.

Für das Landgericht nur eine halbe Reform

Beim Landgericht ist der Reformgesetzgeber hingegen auf halbem Wege stecken geblieben. Erwogen wurde damals bereits die Schaffung von drei selbständigen Landgerichten. Hiervon nahm man jedoch Abstand, weil man aufgrund der Vorgabe des § 60 GVG davon ausging, dass bei jedem der drei Landgerichte sowohl Zivil- als auch Strafkammern zu bilden wären. Die damit verbundenen erhöhten Sicherheitsanforderungen für die beiden zivilen Standorte sowie die Entfernung von Littenstraße und Tegeler Weg zur Staatsanwaltschaft und zur Untersuchungshaftanstalt in Moabit sprachen gegen diese Lösung. Stattdessen entschied sich der Berliner Landesgesetzgeber beim Landgericht für einen „binnenstrukturellen Lösungsansatz“. Es verblieb danach bei einem Landgericht mit einer Präsidentin oder einem Präsidenten an der Spitze und einem Präsidium, die drei Standorte des Gerichts erhielten jedoch eigene Gerichtsverwaltungen, an deren Spitze seitdem jeweils eine Vizepräsidentin oder ein Vizepräsident steht. Die zentralen Aufgaben des Landgerichts werden seither von einer - seit 2006 in der Littenstraße angesiedelten - Zentralverwaltung sowie durch Serviceeinheiten für Haushalt und IT- weiterhin mit Sitz am Tegeler Weg - erledigt.

Die so geschaffene Struktur ist, wie ich es selbst nun aus unterschiedlichen Perspektiven beurteilen kann, sehr ambitioniert. Sie weist der Zentralverwaltung des Landgerichts nahezu mittelbehördliche Befugnisse gegenüber den drei teilverselbständigten Dienststellen zu. Die Abstimmungsprozesse zwischen den Dienststellen und der Zentralverwaltung sind aufwändig, die Zuständigkeitsabgrenzung vielfach schwierig und der Umfang der vom Präsidium zu bewältigenden Personalentscheidungen kaum mehr überschaubar. Dass die Ziele der Justizreform (ortsnahe Entscheidungen, effiziente Verwaltungsabläufe, dezentrale Ressourcenverantwortung) hierdurch verwirklicht worden wären, wird man kaum behaupten können.

Die hochkomplexe Verwaltungsstruktur, die räumliche Aufteilung des Gerichts auf drei Standorte und die mit seiner Größe verbundenen Probleme haben daher die Diskussion über eine weitergehende Reform der Landgerichtsstruktur in Berlin nicht verstummen lassen. Mehrere Vorstöße zur Teilung des Gerichts sind jedoch gescheitert, vordergründig an der Regelung des § 60 GVG, möglicherweise aber auch, weil Gerichts- und Verwaltungsstrukturfragen in Berlin seit einigen Jahren nicht gerade am oberen Ende der politischen Agenda stehen.

Eine neue Lage nach Änderung des § 60 GVG

Immerhin haben diese Diskussionen jetzt den Bundesgesetzgeber veranlasst, nach 143 Jahren die maßgebliche Vorschrift in § 60 GVG zu ändern und um einen Absatz 2 zu ergänzen. Die mit Wirkung zum 1.1.2021 neu geschaffene Regelung ermächtigt die Landesregierungen erstmals, durch Rechtsverordnung bei einem Landgericht mit mindestens 100 Richterstellen ausschließlich Zivil- oder Strafkammern einzurichten.

Die Diskussion um eine Reform der Berliner Landgerichtsstruktur sollte hiermit wiedereröffnet sein. Die Änderung des § 60 GVG gibt dabei die Chance, die Justizreform auch für das Landgericht zu Ende zu denken. Im Hinblick auf die Möglichkeit, Spartengerichte mit einer Zuständigkeit für Strafsachen einerseits und Zivilsachen andererseits zu schaffen, können jedenfalls die seinerzeitigen Bedenken gegen eine Dreiteilung des Gerichts nicht mehr fortgelten.

Durch die Verselbständigung der drei bestehenden Dienststellen zu eigenständigen Landgerichten, denen wieder die bis 1933 verwendeten römischen Ordnungsziffern I - III zuzuweisen wären, würden Einheiten entstehen, in denen sich die Ziele der Justizreform unschwer realisieren ließen: klare Verwaltungsstrukturen, ortsnahe Entscheidungen und eigene Ressourcenverantwortung. Jedes Landgericht wäre mit einer eigenständigen Gerichtsleitung unter Einschluss einer Zuständigkeit für Haushalt und IT-Angelegenheiten und einem eigenen Präsidium auszustatten. Die neuen Gerichte wären mit deutlich über 100 Richterstellen immer noch unter den 10 größten Landgerichten der Republik. Die Landgerichte Hamburg und Köln wären größer, die Berliner Landgerichte befänden sich aber auf Augenhöhe etwa mit dem Landgericht München I oder dem Landgericht Stuttgart. Die Landgerichte Berlin I - III hätten damit eine noch überschaubare und steuerbare Größe und eine Verwaltungsstruktur, die derjenigen aller anderen Landgerichte der Republik entsprechen würde.

Viele Erschwernisse, die sich aus der Größe des Gerichts ergeben, sei es bei der Bewältigung der eine zentrale Eingangsbearbeitung durchlaufenden Klageeingänge, sei es bei der Bewältigung der umfangreichen Personalentscheidungen durch das Präsidium, wären bei einer Aufteilung des Gerichts sogleich überwunden.

Theoretisch wäre alternativ zu einer Dreiteilung auch eine Zweiteilung des Landgerichts in ein Strafgericht und ein Zivilgericht denkbar. Sinnvoll könnte dies aber nur dann sein, wenn für das Zivilgericht ein ausreichend großes und auch verfügbares Gerichtsgebäude vorhanden wäre. Hieran wird es aber dauerhaft fehlen. Zudem wäre auch das Zivilgericht mit deutlich mehr als 200 Richterstellen immer noch mit Abstand das größte Landgericht in Deutschland und von einer kaum mehr steuerbaren Größe.

Neben der Schaffung überschaubarer und klar strukturierter Gerichte hätte die Neubegründung eines rein strafrechtlichen Spartengerichts Vorteile, die in der Diskussion in der Vergangenheit noch keine Rolle gespielt haben. Als Vorbild mag insoweit das im Bereich der Amtsgerichte bereits vorhandene strafrechtliche Spartengericht, nämlich das auch aus landgerichtlicher Sicht sehr erfolgreiche Amtsgericht Tiergarten, gelten. Die Konzentration auf ein Rechtsgebiet ermöglicht eine gezielte richterliche Personalentwicklung mit eigenständigen Stellenbesetzungsverfahren, für das Landgericht in Strafsachen ausschließlich für den Vorsitz in Strafkammern. Auch für die im Kriminalgerichtsgebäude anstehenden immensen organisatorischen, baulichen und technischen Veränderungsprozesse kann es nur von Vorteil sein, wenn diese von einer eigenständigen landgerichtlichen Verwaltung in Moabit vorangetrieben werden. Die zusätzliche Triebkraft, die durch eine Verselbständigung des landgerichtlichen Strafbereichs entstehen würde, kann dabei gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Schließlich spricht auch ein emotionaler Aspekt für die Dreiteilung des Gerichts: Schon jetzt sehen die allermeisten Bediensteten des Landgerichts in erster Linie ihre eigene Dienststelle und nicht das gesamte Landgericht als ihre berufliche Heimat an. Dies auch in der Gerichtsstruktur abzubilden, kann kein Fehler sein. 

Wie kann eine Teilung praktisch durchgeführt werden?

Der gesetzgeberische Aufwand für eine Dreiteilung des Berliner Landgerichts ist überschaubar. Schon jetzt regelt das Berliner Ausführungsgesetz zum GVG in § 1, dass in Berlin als Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit neben dem Kammergericht und mehreren Amtsgerichten „mindestens ein Landgericht“ besteht. Durch Gesetz wären nunmehr drei Landgerichte zu errichten, deren Zuständigkeiten durch Rechtsverordnung geregelt werden könnten. Die Bestimmung der Zuständigkeit des Landgerichts für Strafsachen wäre unproblematisch und könnte sich an der bisherigen Geschäftsverteilung orientieren, nach der die Strafkammern einschließlich der Strafvollstreckungskammern und der Kammer für strafrechtliche Rehabilitierung sowie die Führungsaufsichtsstelle der Dienststelle Moabit zugeordnet sind.

Der Aufteilung der zivilen Zuständigkeiten müsste nach ihrer Grundregel eine regionale sein. Jedem der beiden zivilen Landgerichte sollten die Bezirke mehrerer Amtsgerichte zugewiesen werden, dem früheren Landgericht I in der Littenstraße beispielsweise die Bezirke der Amtsgerichte Köpenick, Lichtenberg, Mitte, Neukölln, Tempelhof-Kreuzberg und - sollte dieses hinzukommen - auch des Amtsgerichts Marzahn-Hellersdorf, dem früheren Landgericht III am Tegeler Weg die Bezirke der Amtsgerichte Charlottenburg, Pankow-Weißensee, Schöneberg, Spandau und Wedding. Diese Verteilung nach Nord/West gegenüber Süd/Ost würde eine Grenzziehung entlang des früheren Mauerverlaufs vermeiden. Neben dieser grundsätzlich regionalen Aufteilung, die auch für die Klägerseite wie bei einer Klage vor einem Amtsgericht leicht nachvollzogen werden könnte, käme eine Zuweisung bestimmter Spezialmaterien in der Rechtsprechung, etwa wegen der anzustrebenden Einheitlichkeit der Entscheidungen bei den Pressesachen, an eines der zivilen Landgerichte in Betracht. Auch der große Verwaltungsbereich der Notaraufsicht und Notarprüfung könnte in einem Haus konzentriert bleiben.

Nicht unbeträchtlich, aber mit einem gewissen Vorlauf doch unschwer zu bewältigen wäre der Vollzugsaufwand bei der Zuweisung des vorhandenen Personals auf die drei selbständigen neuen Gerichte und auch bei der Verteilung der zivilrechtlichen Bestandsverfahren auf zwei Gerichte. Dass in nennenswertem Umfang zusätzliches Personal benötigt werden würde, vermag ich nicht zu erkennen. Verwaltungsbereiche mit einer vollständigen Personalverwaltung sind bereits in allen drei Häusern vorhanden; sie müssten allerdings um selbständige Haushalts- und IT-Dezernate unter Aufteilung der bisherigen zentralen Serviceeinheiten ergänzt werden. Insgesamt wäre von den vier Verwaltungseinheiten des Landgerichts eine, die Zentralverwaltung, aufzulösen und deren Personal – einschließlich des Präsidenten - auf die drei selbständigen neuen Gerichte zu verteilen. Drei Präsidentenstellen sehen die Haushaltspläne des Landes bereits seit den letzten gescheiterten Reformanläufen vor. Die erforderliche Anzahl von Vizepräsidentenstellen ist ebenfalls vorhanden und bereits besetzt.

Fazit

Mit der Neufassung des § 60 GVG hat der Bundesgesetzgeber dem Land Berlin das Geschenk gemacht, über seine Landgerichtsstruktur nunmehr losgelöst von den Fesseln der 143 Jahre geltenden bisherigen Fassung und damit unter Berücksichtigung der örtlichen Berliner Gegebenheiten neu nachdenken zu dürfen. Als Ergebnis liegt es für mich nahe, die Zielvorgaben der Justizreform nun auch für das Landgericht Berlin zu realisieren und die drei bestehenden Dienststellen zu selbständigen Gerichten aufzuwerten - mit klaren Strukturen, ortsnahen Entscheidungen, effizienten Verwaltungsabläufen und eigener Ressourcenverantwortung. Die von den Nationalsozialisten herbeigeführte Zentralisierung der Struktur der Berliner ordentlichen Gerichtsbarkeit würde endgültig überwunden und mit der Schaffung eines strafrechtlichen Spartengerichts eine neue Einheit begründet, die für den überfälligen Modernisierungsprozess im "Campus Moabit" nur von Vorteil sein kann.

P.S.: Sollten Sie sich beim Lesen Sorgen um das weitere Schicksal des Verfassers dieses Beitrages gemacht haben, kann ich Sie beruhigen. Es wäre für mich eine Ehre, der letzte Präsident des Landgerichts Berlin gewesen sein zu dürfen. Zudem hege ich die Hoffnung, dass man mir nach der Dreiteilung des Gerichts die Auswahl lässt, in welchem der drei selbständigen Gerichte ich mein Amt fortführen möchte. Diese Auswahl würde mir allerdings tatsächlich schwerfallen.

 

Dr. Holger Matthiessen
Präsident des Landgerichts Berlin