Studienreise des Sozialgerichts nach Stockholm

Etwa 30 Kolleginnen und Kollegen des Sozialgerichts reisten vom 15. bis zum 18. Juni nach Schweden.

Im Jahr 2019 wurde es wieder Zeit für eine Studienreise des Sozialgerichts Berlin. Die Reise, an der ca. 30 Kolleginnen und Kollegen teilnahmen, führte vom 15. bis zum 18. Juni nach Stockholm. Die Entscheidung, die schwedische Hauptstadt zu dieser Jahreszeit zu besuchen, erwies sich als goldrichtig, denn sie zeigte sich von ihrer warmen und sonnigen Seite.

Nach einem mehr touristischen Tag begann das offizielle Besuchsprogramm. 

Erste Station war das Verwaltungsgericht (Förvältningsrättan), das etwas außerhalb der Innenstadt in einem modernen Gebäude untergebracht ist. Wie das Sozialgericht Berlin ist auch dieses Gericht mit einem Röntgengerät zur Kontrolle von Gepäckstücken ausgestattet. Der Prozedur mussten sich auch alle Mitglieder der Besuchergruppe unterziehen, obwohl es sich ja um Richterinnen und Richter handelte; aber vielleicht liegt dieser Verfahrensweise eine besonders strikte Anwendung des Gleichheitssatzes zugrunde. Das Gericht ist das größte von zwölf Verwaltungsgerichten des Landes.

Die Zuständigkeit umfasst die nach deutschem Verständnis öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten und damit auch das Sozialrecht. Hinzu kommen Entscheidungen über die Anwendung von Zwang bei der Unterbringung, Behandlung oder Erziehung von psychisch Kranken oder Jugendlichen. Die Richterinnen und Richter sowie ein juristischer Mitarbeiter des Gerichts, die wie in Schweden üblich sehr gut Englisch sprachen, nahmen sich viel Zeit, um über ihre Tätigkeit zu berichten. Jeder Richter bearbeitet ca. 150 offene Verfahren und erreicht 50 bis 70 Erledigungen pro Monat. Einer der Richter berichtete, dass sein ältestes Verfahren im Oktober 2018 eingegangen sei. Dabei werden die Verfahren regelmäßig schriftlich erledigt. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ist die Ausnahme. Zur Ermittlung des Sachverhalts in medizinisch geprägten Rechtsgebieten werden anders als in Deutschland auch kaum gerichtliche Sachverständigengutachten eingeholt. Dort haben Befundberichte der nicht frei wählbaren behandelnden Ärzte eine entscheidende Bedeutung. 

Wie auch in Deutschland ist der Anteil der Frauen an der Richterschaft stetig gestiegen. Neben den Richtern umfasst das juristisch gebildete Personal auch sog. reporting clerks, die Urteile vorbereiten. Dabei sind jedem Richter bis zu vier reporting clerks zugeordnet, was die Erledigungszahlen teilweise erklären dürfte. Bemerkenswert ist, dass die Richter individuell bezahlt werden.

Am Nachmittag besuchten wir das Oberste Verwaltungsgericht, das in bester Innenstadtlage auf der Insel Riddarholmen – der Insel des Adels – seine Sitz hat, auf der auch noch weitere obere Behörden und Gerichte angesiedelt sind. Wie für eine Institution dieses Ranges üblich befand sich das Gebäude in bestem Zustand, doch war es wenig belebt, denn viele Büros standen leer. Das Gericht ist die dritte Instanz der Verwaltungsgerichtbarkeit und für Revisionsverfahren zuständig. Da in Schweden kein eigenes Verfassungsgericht existiert, nimmt das Gericht faktisch auch diese Funktion wahr, ohne jedoch eine Verwerfungskompetenz zu haben. Soweit das Gericht allerdings Verfassungsverstöße feststellt ist der Gesetzgeber im Allgemeinen bereit, dem durch Gesetzesänderungen Rechnung zu tragen, was für deutsche Ohren geradezu paradiesisch klingt.

Erstes Besuchsziel am zweiten Tag war die Försäkeringskassan. Dabei handelt es sich um eine Behörde, die mit 1.400 Mitarbeitern eine Vielzahl von Zweigen der sozialen Sicherheit verwaltet. Dazu gehören insbesondere Leistungen der Krankenversicherung, des Krankengeldes nach Auslaufen einer kurz bemessenen Lohnfortzahlung, des Kindergeldes und Elterngeldes. Für die Rentenversicherung besteht ein eigener Träger. Diese Behörde ist – wie alle in Schweden – in hohem Maße digitalisiert, denn Anträge können nicht nur über Apps gestellt werden, sondern werden auch teilweise maschinell bearbeitet. Insgesamt werden nur 3 % aller Anträge abgelehnt. Eine Besonderheit ist die Einrichtung des allmänt ombud. Dabei handelt es sich um einen Vertreter des öffentlichen Interesses. Diese Stelle führt Rechtstreitigkeiten vor den Verwaltungsgerichten gerade nicht nur im Interesse der Behörde, sondern kann unabhängig vom Ausgang des Verfahrens Rechtsmittel einlegen, wenn sie eine Rechtsfrage für klärungsbedürftig hält. 

Zum Abschluss besuchte die Gruppe noch die Deutsche Botschaft, deren Referentinnen für Soziales einen hohen Anteil am Gelingen des Programms hatten. Dieser Programmpunkt war auch eine Reise in die deutsche Geschichte, denn die Botschaft ist noch in demselben Gebäude untergebracht wie 1975, als sie von Terroristen überfallen wurde, die zwei Diplomaten ermordeten. Wir erfuhren viel über die in Schweden sehr weit fortgeschrittene Gleichstellung von Frauen. So gibt es dort kein Ehegattensplitting, das als Hindernis einer Erwerbstätigkeit von Frauen angesehen wird. Zu erfahren war aber auch, dass es bei aller Affinität der Schweden zum Verwaltungsverfahren per Smartphone, nicht gerade einfach ist, sich als Ausländer in Schweden niederzulassen und bei den Behörden anzumelden.

Es hätte sicherlich noch viel zu besprechen gegeben, aber irgendwann muss auch die interessanteste Reise enden. Auf dem Rückweg in die Stadt, bei einem Spaziergang am Wasser, ahnte kaum jemand, dass die Reise noch einmal richtig aufregend würde: Nicht nur in Berlin, sondern auch im gut organisierten Schweden können Züge ausfallen. Am Abreisetag war ausgerechnet die Zugverbindung zum Flughafen unterbrochen. Dass in einer solchen Situation die anderen Verkehrsmittel nicht gerade leer sind, versteht sich von selbst. Für manche Teilnehmer ging es tatsächlich um Minuten, aber zum Schluss haben es alle geschafft und ihre jeweiligen Flüge erreicht.

 

Dr. Volker Nowosadtko