Studienreise des Sozialgerichts Berlin nach Zagreb

Zur Zeit der letzten Studienreise des Sozialgerichts im Juni 2019 dachte man bei dem Sichtwort Corona nur an ein hippes Getränk und nicht an eine Pandemie. Im Oktober 2022 bot sich nun die Gelegenheit, zwar nicht frei von der Pandemie, aber doch weitgehend frei von Restriktionen wieder eine Studienreise zu unternehmen. Sie führte vom 8. bis zum 11. Oktober 2022 nach Zagreb, die Hauptstadt von Kroatien.

Schon die Anreise, die individuell organisiert wurde, erwies sich dabei als Herausforderung, denn zwischen Berlin und Zagreb gibt es keine direkte Flugverbindung. Wer nicht mit der Bahn anreisen wollte, musste einen Flug mit Umsteigen buchen. Die Anreise ging bei fast allen unspektakulär vonstatten und so fand sich die Reisegruppe am Abend des 8. Oktober fast vollzählig in einem Restaurant zum gemeinsamen Abendessen ein.

Der Tag nach der Anreise ist bei den Studienreisen des Sozialgerichts regelmäßig der touristischen Erkundung des Ortes gewidmet. Die meisten aus der Gruppe nahmen an einer Führung durch die Altstadt teil. Die kundige und sehr lebhafte Führerin, die auch mit politischen Kommentaren nicht sparte, repräsentierte auch ein Stück deutsche Migrationsgeschichte. In Deutschland geboren, wanderte sie später in das Herkunftsland ihrer Eltern aus.

Der erste offizielle Besuchstermin führte uns am Montag zum Obersten Verwaltungsgericht der Republik Kroatien, das in einem unspektakulären und wenig repräsentativen Gebäude untergebracht ist. Dort empfing uns die Präsidentin in Begleitung von zwei Richterinnen des Gerichts und berichtete über die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die in Kroatien auch das Sozialrecht umfasst. Bestand zunächst nur ein Verwaltungsgericht für Kroatien, so wurde die Verwaltungsgerichtsbarkeit später zweizügig umgestaltet. Nunmehr hat das Land vier Verwaltungsgerichte mit ca. 50 Richterinnen und Richtern und als Rechtsmittelinstanz das oberste Verwaltungsgericht, an dem 18 Richterinnen und Richter tätig sind. Diese bearbeiten ca. 13.000 Sachen in der ersten Instanz und ca. 5000 in der zweiten, wobei bei den Verwaltungsgerichten Einzelrichter und bei dem Obersten Gericht Spruchkörper aus drei Richtern entscheiden.

Besonders auffällig sind Regelungen, mit denen die Verfahren beschleunigt und die Bestände an offenen Verfahren niedrig gehalten werden sollen. Danach sind die Richterinnen und Richter verpflichtet, eine bestimmte Anzahl an Verfahren pro Monat zu erledigen. Wird diese Mindestzahl unterschritten, drohen Maßnahmen, die von Gehaltskürzung bzw. Geldauflagen bis zur Entfernung aus dem Dienst reichen können. Das mag aus der Sicht mancher attraktiv erscheinen. Ob dies mit der richterlichen Unabhängigkeit im Sinne von Art. 97 GG zu vereinbaren ist, erscheint doch eher zweifelhaft. Eine andere Frage ist, ob derartige Mechanismen wirklich den Interessen der Rechtsuchenden dienen. Die Aussicht auf empfindliche finanzielle Einbußen – bei ohnehin nicht sehr hohen Gehältern – dürfte bei den meisten Richterinnen und Richtern einen starken Anreiz auslösen, „kurzen Prozess“ zu machen. In einer Verwaltungsgerichtsbarkeit funktioniert dies am besten, indem die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen nicht eingehend und damit zeitaufwändig geprüft, sondern bestätigt werden.

Vom Obersten Verwaltungsgericht konnte die Gruppe auf einem kurzen Fußweg den Obersten Gerichtshof der Republik Kroatien erreichen. Dieser ist die dritte Instanz der ordentlichen Gerichtsbarkeit und für Zivil- und Strafsachen zuständig. Der ursprünglich vorgesehene Vortrag des Präsidenten des Gerichts entfiel, weil dieser krankheitsbedingt verhindert war. Die an seine Stelle tretende Vizepräsidentin verheimlichte nicht, dass ihr dieser Termin nicht besonders willkommen war. Nach dem Vortrag war noch eine Führung durch das Haus angekündigt. Erwartungsfroh folgten wir der Richterin, die uns führte, in den Keller des Gebäudes. Dort befand sich eine ziemlich alte und auch etwas ehrwürdige Bibliothek, in der man auch deutschsprachige Literatur finden konnte. Damit endete aber auch die Führung durch das Haus. Einen Einblick in Dienstzimmer, der ja sehr interessant gewesen wäre, wurde nicht gewährt. Man konnte sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass die Gastgeber froh waren, dass wir das Haus wieder verlassen hatten.

Am Nachmittag stand ein Besuch der juristischen Fakultät der Universität Zagreb auf dem Programm, die eine der ältesten Einrichtungen der Universität ist und bereits Ende des 18. Jahrhunderts gegründet wurde. Nach der Begrüßung durch den Dekan hielt die Vizedekanin einen Vortrag über die Geschichte der Einrichtung und die derzeitigen Arbeitsschwerpunkte. Dem sich anschließenden Vortrag eines Mitglieds der Gruppe zur Sozialgerichtsbarkeit in Deutschland und dem Sozialgericht Berlin im besonderen lauschten auch Studierende der Rechtswissenschaft, die die Gelegenheit, Fragen zu stellen, rege wahrnahmen. Dabei bestand ein beachtliches Interesse an Praktika oder ähnlichen Aufenthalten am Sozialgericht.

Letzter offizieller Programmpunkte war ein Gespräch mit Vertreterinnen des Ministeriums für Arbeit, Rentensystem, Familie und Sozialpolitik der Republik Kroatien sowie des Ministeriums der Justiz und der öffentlichen Verwaltung der Republik Kroatien. Beide Institutionen wurden ausschließlich von Frauen vertreten, wobei die Justiz und die öffentliche Verwaltung insgesamt einen hohen Frauenanteil aufweist. Die Referentinnen informierten sehr ausführlich und detailfreudig über das kroatische Rentensystem, das sich hinsichtlich der gesetzlichen Rente an dem Modell in Deutschland orientiert und daneben aus einer privaten Zusatzversicherung besteht.
Anders als bei den meisten der früheren Studienreisen sprachen die Vertreter der Gerichte und Behörden weder Deutsch noch Englisch, so dass gedolmetscht werden musste. Die Gruppe wurde bei allen Terminen von derselben Dolmetscherin begleitet, die sich als echter Glücksfall erwies, weil sie mit juristischen Begriffen sehr gut vertraut war.

Zum Abschluss besuchte die Gruppe noch das Museum der Stadt Zagreb. Für den Besuch mit einer Führung war etwas weniger als eine Stunde eingeplant. Die Englisch sprechende Museumsführerin war der Ansicht, dass die kurze Dauer der Führung kein Grund dafür ist, der Gruppe nicht einen wirklich umfassenderen Überblick über die Geschichte der Stadt zu geben. Mangelnde Zeit kann doch ohne weiteres durch entsprechende Sprechgeschwindigkeit kompensiert werden. So verfuhr die Museumsführerin und bot uns die schnellste Museumsführung aller Zeiten.

Letzte Abenteuer bot für manche Teilnehmer schließlich die Rückreise. Die Gruppe, die über München fliegen sollte, hob in einem Turboprop-Flugzeug ab, musste aber wegen eines technischen Defekts nach Zagreb zurückkehren. Zwar gelang es der Fluggesellschaft, ein Ersatzflugzeug zu beschaffen, doch war der Anschlussflug nicht mehr zu erreichen. Nach einer sehr kurzen Nacht in einem Hotel in München erreichte aber auch diese Gruppe wohlbehalten Berlin.

 

Dr. Volker Nowosadtko