Rechtsstaatlichkeitsbericht 2022 empfiehlt bessere Ausstattung der Justiz

Der Bericht über die Rechtsstaatlichkeit ist im Juli 2022 in seiner dritten Ausgabe erschienen

Darin nimmt die Europäische Kommission wie üblich neben dem Justizwesen auch die Korruptionsbekämpfung, die Medienfreiheit und den Medienpluralismus sowie den Zustand der Gewaltenteilung in der Europäischen Union in den Blick. Der Bericht setzt sich aus zwei Teilen zusammen: Im ersten, horizontalen Teil werden allgemeine und EU-weite Tendenzen analysiert, während der zweite Teil die Situation in jedem der 27 Mitgliedstaaten zum Gegenstand hat. In diesem Jahr enthält der Bericht zudem erstmals konkrete Empfehlungen an die Mitgliedstaaten, die diese ermutigen sollen, geplante oder laufende Reformen voranzubringen und festzustellen, wo noch Verbesserungsbedarf besteht.

Deutschland schneidet bei der Bewertung der Situation der Rechtsstaatlichkeit durch die Europäische Kommission wieder insgesamt gut ab. Bei der von der Öffentlichkeit wahrgenommenen Unabhängigkeit der Justiz steht es zusammen mit Österreich, Finnland, Dänemark, den Niederlanden und Luxemburg in der Spitzengruppe. Schlusslichter im EU-weiten Vergleich sind hier Kroatien, Polen und die Slowakei.

Mängel bei der Ernennung von RichternIm Hinblick auf die Ernennungsverfahren von Richterinnen und Richtern in den Mitgliedstaaten stellt die Europäische Kommission fest, dass zwar mehrere Mitgliedstaaten, darunter Irland, Kroatien und Tschechien, Verbesserungen in die Wege geleitet haben. Die Situation in anderen Ländern gibt allerdings weiterhin Anlass zur Sorge. In Litauen steht die Ernennung des Präsidenten des Obersten Gerichtshofes mangels fester Auswahlfristen und eines dem Präsidenten der Republik insofern eingeräumten Ermessensspielraums bereits seit dem Jahr 2019 aus. Im Hinblick auf Polen verweist die Europäische Kommission auf die fortwährende Beschäftigung des EuGH und des EGMR mit rechtlich zweifelhaften Ernennungen von Richterinnen und Richtern am Obersten Gericht. Für die Ernennungen ist der Landesjustizrat zuständig, dessen politische Abhängigkeit u.a. bereits im Rahmen des Verfahrens nach Art. 7 EUV sowie diversen Vertragsverletzungs- und Vorabentscheidungsverfahren diskutiert wird. Kritisch beurteilt die Europäische Kommission auch die Situation in Bulgarien, wo höherrangige Richterpositionen extensiv im Wege von Abordnungen besetzt werden, wobei es nach wie vor an einem regelmäßigen Auswahlverfahren für Ernennungen fehlt. Ebenfalls bedenklich erscheint die in Ungarn weiterhin existierende Möglichkeit von Ermessensentscheidungen bei der Ernennung und Beförderung von Richterinnen und Richtern, einschließlich der Wahl des Präsidenten der Kuria (oberstes Gericht Ungarns), der Fallzuweisung und der Zahlungen von Boni.

Mit Blick auf Deutschland nimmt die Europäische Kommission dagegen wohlwollend zur Kenntnis, dass das Erfordernis einer einschlägigen Erfahrung als Auswahlkriterium für Vorsitzende Richterinnen und Richter an den Bundesgerichten wieder eingeführt worden ist, nachdem die zwischenzeitliche Abschaffung dieser Voraussetzung auf breite Kritik gestoßen war. Angesprochen wird auch die Tendenz zur Einführung systematischer Sicherheitsüberprüfungen als Voraussetzung für die Ernennung in das Richteramt. Die Europäische Kommission weist insofern auf die Sensibilität der Unabhängigkeit der Justiz hin, insbesondere, wenn solche Sicherheitsüberprüfungen nicht von den Selbstverwaltungseinrichtungen der Justiz selbst, sondern von einer externen Stelle durchgeführt werden.

Unabhängige Staatsanwaltschaften?Im Hinblick auf die Situation der Staatsanwaltschaften unterstreicht die Europäische Kommission die Bedeutung von institutionellen Garantien, um zu gewährleisten, dass Strafverfolgungsbehörden frei von politischem Druck und unparteiisch ermitteln und anklagen können. Mehrere Mitgliedstaaten haben bereits Reformen zur Stärkung der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften in Angriff genommen, darunter etwa Tschechien, wo mit einer derzeit in Vorbereitung befindlichen Reform zukünftig feste Amtszeiten für den Generalstaatsanwalt und andere leitende Staatsanwälte eingeführt und klare Voraussetzungen für ihre Abberufung festgelegt werden sollen. Zudem hat Bulgarien im Rahmen des Aufbau- und Resilienzplans zugesagt, einen wirksamen Mechanismus für die Rechenschaftspflicht und die strafrechtliche Haftung des Generalstaatsanwalts und seiner Stellvertreter sowie eine gerichtliche Überprüfung der staatsanwaltlichen Entscheidung, von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abzusehen, einzuführen.

Was die Befugnis der Justizministerinnen und - minister in Deutschland angeht, Staatsanwälten in Einzelfällen Weisungen zu erteilen, spricht die Europäische Kommission die immer noch laufende Diskussion an, ob das Weisungsrecht abgeschafft oder – ggf. in modifizierter Form – beibehalten werden sollte. Zwar vermeidet sie eine klare Positionierung. Der Verweis auf die an Deutschland gerichtete Empfehlung des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen von November 2021, Gesetzesreformen in Erwägung zu ziehen, um die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft effektiv zu gewährleisten, spricht aber dafür, dass die Europäische Kommission eine Reform des Weisungsrechts ebenfalls befürworten würde.

Richterbesoldung im Fokus der Europäischen KommissionEin wichtiges Thema bleibt die personelle und finanzielle Ausstattung der Justiz. Die Europäische Kommission zeigt auch im diesjährigen Bericht, dass sie das Thema auf dem Schirm hat und würdigt die Bemühungen Belgiens und Frankreichs, ihre Justizsysteme besser auszustatten. Dagegen betrachtet sie die Situation in Slowenien kritisch. Dort hat die Regierung ohne Konsultation der Justizbehörden die zuvor vereinbarten Mittel für Gerichte, den Justizrat und die Staatsanwaltschaft gekürzt, weshalb dort nun die Verfassungsmäßigkeit der Richterbesoldung infrage steht. Kritisch blickt die Europäische Kommission auch auf Dänemark, wo die nach wie vor geringen Ausgaben für die Justiz und die niedrige Zahl von Richterinnen und Richtern Bedenken auslösen.

Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern in Deutschland sollte zu denken geben, dass die Europäische Kommission das Thema der Richterbesoldung im Länderkapitel für Deutschland nicht nur anspricht, sondern auch in ihren an Deutschland gerichteten Empfehlungen aufruft. Darin heißt es, Deutschland werde empfohlen, „seine Bemühungen im Rahmen des neuen Pakts für den Rechtsstaat fortzusetzen, angemessene Ressourcen für das Justizsystem bereitzustellen, auch in Bezug auf die Besoldung von Richterinnen und Richtern, und dabei europäische Standards für die Ressourcen und die Vergütung im Justizsystem zu berücksichtigen.“

Im Berichtsteil werden sodann zwar die in Deutschland erkennbaren Bemühungen um eine Fortsetzung des „Pakts für den Rechtsstaat“ und den Ausbau der Digitalisierung („Digitalpakt für die Justiz“) gewürdigt. Gleichzeitig stellt die Europäische Kommission aber klar, dass die bevorstehenden Herausforderungen – insbesondere vor dem Hintergrund der absehbaren Pensionierungswellen bei Richterinnen und Richtern – nicht allein mit der Schaffung neuer Stellen bewältigt werden können. Die weiteren Ausführungen geben Anlass zu Bedenken. So sorgt sich die Europäische Kommission um nicht weniger als die allgemeine Attraktivität des Richterberufs. Insoweit nimmt sie Bezug auf die Hinweise im Beitrag des Deutschen Richterbundes zum Rechtsstaatlichkeitsbericht, in dem sowohl auf das allgemeine Gehaltsniveau als auch auf die diesbezüglichen regionalen Unterschiede (Gehaltsdifferenz im Ländervergleich) eingegangen wird. Das Anraten der Europäischen Kommission, „europäische Standards für […] die Vergütung im Justizsystem zu berücksichtigen“, darf als klarer Hinweis verstanden werden, dass man diesen Standards in Deutschland derzeit nicht gerecht wird.

Welche Konsequenzen folgen daraus? Die Justiz muss sich am Markt stärker positionieren, wenn sie für den gut ausgebildeten juristischen Nachwuchs attraktiv bleiben (oder wieder werden?) möchte. Dass eine angemessene Vergütung einen wesentlichen Beitrag zur Attraktivität leistet, bedarf keiner näheren Erläuterung. Dass sich ein Dienstherr nachhaltige Wettbewerbsnachteile einhandelt, wenn er die systematische Unteralimentierung seiner Bediensteten vom Bundesverfassungsgericht bescheinigt bekommt, liegt ebenfalls auf der Hand. Nicht besser wird es, wenn der Makel der Verfassungswidrigkeit für all jene bestehen bleibt, deren Misstrauen gegen den eigenen Dienstherrn nicht groß genug war, um sich gegen die Unteralimentierung durch einen Widerspruch zu wehren. Denn das zeigt, dass die Fürsorgepflicht des Dienstherrn dort klein geschrieben wird.

Trotz der aufgezeigten Mängel konstatiert die Europäische Kommission, dass das Justizsystem in Deutschland bislang insgesamt weiterhin effizient funktioniert. Die Verfahrensabschlussquoten in Verwaltungs- sowie Zivil- und Handelsverfahren sind stabil geblieben. Auch hat sich die Zahl der anhängigen Verwaltungsverfahren im Jahr 2020 leicht verringert, wobei sie jedoch mit 0,9 Fällen pro 100 Einwohner nach wie vor relativ hoch ist.

Schlecht beraten wäre man jedenfalls, wenn man sich auf der zurzeit noch zufriedenstellenden Effizienz des deutschen Justizsystems ausruhen wollte. Das liegt nicht nur an der nachlassenden Attraktivität des Richterberufs, die es schwieriger gestaltet, vor dem Hintergrund der bevorstehenden Pensionierungswellen ausreichend geeigneten Nachwuchs zu finden, sondern auch an neuen Herausforderungen, denen die Justiz sich stellen muss und die die sich ankündigenden Engpässe noch verstärken. So ist die Effizienz in Zivilverfahren vor allem durch die Zunahme an zivilgerichtlichen Massenverfahren (z.B. im Zusammenhang mit dem Abgasskandal) gefährdet. Die Europäische Kommission sieht hier „ein ernstes Problem“ auf die deutsche Justiz zurollen. Überlegt man, wie man dieses Problem bewältigen kann, dreht man sich im Kreis. Neben der – notwendigen – weiteren Digitalisierung der Justiz bedarf es zur Lösung vor allem eines: gut ausgebildetes Personal. Die Diskussion ist eröffnet Das Thema Rechtsstaatlichkeit ist eine der zentralen Prioritäten des Kabinetts von der Leyen.

Wie in den vergangenen Jahren hofft die Europäische Kommission auf eine breite Debatte über den Rechtsstaatlichkeitsbericht, nicht nur in den EU-Institutionen, sondern insbesondere auch in den Mitgliedstaaten, nationalen Parlamenten und der Zivilgesellschaft. Dem Wunsch des Europäischen Parlaments nach konkreten Empfehlungen ist die Europäische Kommission in diesem Jahr nachgekommen. Zur Benennung konkreter Zielvorgaben, Umsetzungsfristen und Konsequenzen bei fehlender Behebung von Mängeln konnte sie sich hingegen nicht durchringen. Insofern gilt weiterhin der allgemeine Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit. Dieser sieht eine fortlaufende interne Sachstandsanalyse (hierher gehört u.a. der Rechtsstaatlichkeitsbericht) vor. In den folgenden drei Verfahrensstufen folgen der Rechtsstaatlichkeitsdialog, eine förmliche Empfehlung mit Fristsetzung und schließlich der Übergang in das (leider zahnlose) Verfahren nach Art. 7 EUV. Kritikerinnen und Kritikern wird das nicht genügen.

Dr. Christoph Rollberg