Bedingt einsatzbereit: Die Berliner Justiz und Videoverhandlungen

 

Eine Umfrage des Deutschen Richterbundes in der Berliner Justiz offenbart eine peinliche Schönfärberei der (damaligen) Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung. Entgegen ihrer Behauptung ist nur ein Bruchteil der Verhandlungssäle für eine professionelle Videokommunikation gerüstet. Die Verantwortlichen haben bei den Bürgerinnen und Bürgern Erwartungen geweckt, welche die Gerichte derzeit nicht erfüllen können.

„Zwei Drittel aller Gerichtsäle“?

Eine Antwort der damaligen Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung auf eine Schriftliche Anfrage eines Abgeordneten der LINKEN suggeriert einen hervorragenden Ausstattungsstand der Berliner Justiz. Die Senatsverwaltung wurde damals gefragt: Wie viele Gerichtssäle an welchen Gerichtsstandorten erfüllen aktuell technisch die jeweils einschlägigen prozessrechtlichen Voraussetzungen zur Ermöglichung von digitalen Verhandlungen und wie hoch ist der Prozentsatz der digitalen Gerichtssäle am Gesamtbestand der verfügbaren Säle {…}? In ihrer Antwort vom 19. Oktober 2022 (AGH-Drs. 19/13440) präsentierte die Senatsverwaltung eine Tabelle, nach der in 226 von 330 der Berliner Gerichtssäle (oder 68 Prozent) aktuell Videokonferenzen möglich seien. Dabei wurden auch Sitzungssäle als tauglich berücksichtigt, in denen – soweit angegeben, bei aktueller Nutzung auskömmlich als Poolgeräte vorhandene – mobile Videokonferenzsysteme genutzt werden können. Der Tagesspiegel griff diese Antwort auf und betitelte einen Artikel vom 25. Oktober 2022 irreführend mit „Zwei Drittel aller Gerichtssäle sind fit für digitale Verhandlungen.“

Die Berichterstattung und die Antwort der Senatsverwaltung ließen uns aufhorchen, denn die Informationen stimmten nicht mit den Erfahrungen der Kolleginnen und Kollegen in den einzelnen Häusern überein. Selbst wenn man lange über die Begrifflichkeiten wie „einschlägigen prozessrechtlichen Voraussetzungen“ oder „auskömmlich als Poolgeräte vorhandene Videokonferenzsysteme“ hätte streiten können, passte die Antwort nicht zur Realität. Daher haben wir uns selbst ein Bild davon gemacht, wie es um die Einsatzbereitschaft der Videotechnik in den Berliner Gerichten bestellt ist. Denn schließlich fällt es den Kolleginnen und Kollegen auf die Füße, wenn in einem überwiegenden Teil der Verhandlungssäle Videoverhandlungen „möglich“ sein soll, tatsächlich aber Videoverhandlungen mangels entsprechenden Equipments nicht oder nicht gleichzeitig durchgeführt werden können. Jede Ablehnung von Anträgen auf oder Bitten um Videoverhandlung durch die Gerichte musste angesichts der von der Senatsverwaltung vorgelegten Zahlen gegenüber Rechtssuchenden wie eine Arbeitsverweigerung der Kolleginnen und Kollegen wirken. Das wollten wir nicht auf uns sitzen lassen.

Umfrage des DRB Berlin und ihre Hürden

Wir haben Ende November 2022 an alle Berliner (Ober-)Gerichte (und über die Schriftliche Anfrage des Abgeordneten hinausgehend an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg) vier Fragen versandt, die aus Verbandssicht den Stand der Einsatzbereitschaft von Videotechnik praxisrelevant erfassen:

  1. Wie viele Sitzungssäle sind in Ihrem Haus mit stationärer Videokonferenztechnik ausgestattet und einsatzbereit?
  2. Wie viele mobile Videokonferenzsysteme (in der Schriftlichen Anfrage sogenannte Poolgeräte) sind in Ihrem Haus vorhanden und einsatzbereit?
  3. In wie vielen Sitzungssälen können in Ihrem Haus mobile Videokonferenzsysteme (in der Schriftlichen Anfrage sogenannte Poolgeräte) eingesetzt werden?
  4. Wie viele Videoverhandlungen können in Ihrem Haus - in den Sitzungssälen - zeitgleich maximal stattfinden?

Der anfänglich sehr gute Rücklauf von Antworten aus der ordentlichen Gerichtsbarkeit versiegte überraschend, als die damalige Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung überhastet die Beantwortung an sich zog und zunächst selbst (zentral) eine Antwort auf unsere Fragen verfassen wollte. Im Ergebnis hat die Senatsverwaltung davon wieder Abstand genommen. Gründe hierfür sind uns nicht bekannt.

Mit einer Ausnahme haben uns schließlich alle Gerichte geantwortet. Die letzte Antwort erreichte uns im Mai dieses Jahres. Durch die Verzögerung der Senatsverwaltung haben sich an einigen Gerichten Änderungen ergeben (z.B. neu in Betrieb genommene Videoverhandlungssäle), die nicht berücksichtigt werden konnten.

Ernüchternde Zusammenfassung

Der Vergleich der Ergebnisse unserer Umfrage über tatsächlich einsetzbare Videotechnik mit der geschönten Antwort der Senatsverwaltung auf die Anfrage des Abgeordneten fällt ernüchternd aus: Durchschnittlich verfügen nur knapp über 8 Prozent (oder 27 von 322) der Säle der antwortenden Gerichte über Sitzungssäle mit stationärer Videokonferenztechnik. Ohne das Finanzgericht Berlin-Brandenburg, welches in der Antwort auf die Schriftliche Anfrage nicht miterfasst war, sind es weniger als 7 Prozent (oder 22 von 317 Sälen). Soweit hierzu Angaben gemacht wurden, können durchschnittlich nur in knapp über 17 Prozent (oder in 53 von 309) der Säle Verhandlungen (einschließlich nichtöffentlicher Termine) im Wege der Bild- und Tonübertragung durchgeführt werden. Ohne das Finanzgericht Berlin-Brandenburg sind es sogar nur 15 Prozent (oder 48 von 304 Sälen). Dabei erfüllt die von uns mit berücksichtigte Videokommunikation in nichtöffentlichen Verhandlungen wohl nicht einmal die in der Anfrage des Abgeordneten erfassten prozessualen Anforderungen an digitale Verhandlungen. Die Mittelwerte bilden die Lage an einzelnen Gerichten nicht ab, da Videotechnik an den einzelnen Standorten ungleich verteilt ist. Die Ausstattung variiert in den einzelnen Häusern sehr stark. In wenigen Fällen können sämtliche Säle (gleichzeitig) für Videoverhandlungen genutzt werden (Finanzgericht Berlin-Brandenburg und Amtsgericht Köpenick), überwiegend jedoch nur weniger als 30 Prozent.

Viel bescheidenere Ausstattung der StandorteIm Folgenden werden die Antworten der Gerichte auf unsere Fragen tabellarisch zusammengefasst. Hierbei mussten wir die – dankenswerter Weise – teils sehr ausführlichen Antworten auf ein tabellenverträgliches Format reduzieren. Angaben zur Gesamtzahl von Sitzungssälen haben wir ergänzt (entnommen aus der Antwort auf die Schriftliche Anfrage und in eckigen Klammern angegeben):

Gericht

Anzahl ausgestatteter Säle (Frage 1)

Anzahl mobiler Systeme (Frage 2)

Anzahl (mobil) videotauglicher Säle (Frage 3)

Anzahl gleichzeitiger Videoverhandlungen (Frage 4)

AG Charlottenburg

0

1 Videokonferenzanlage

3 Notebooks

4 Tablets

In allen Sälen [13]

Entfällt

AG Kreuzberg

0

1 Videokonferenzanlage

2 Tischgeräte (für nichtöffentliche Termine)

28/28

3

AG Köpenick

4

2 Notebooks

2 Tischgeräte

6/6

6

AG Lichtenberg

0

5

In allen Sälen [7]

3

AG Mitte

0

6 Notebooks

2 Videokonferenzanlagen

8/16

4

AG Neukölln

2

1

7/7

4

AG Pankow

4

2 Notebooks

1 Videokonferenzanlage

2 Tischgeräte (für nichtöffentliche Termine)

In allen Sälen [13]

5

AG Schöneberg

0

3 Videokonferenzanlagen

2 Tischgeräte

1 Videokonferenzanlage (für die Rechtshilfe)

14/14

3

AG Spandau

3

11

In allen Sälen [5]

1

AG Tiergarten

1

2

21[/60]

3

AG Wedding

2

11

In allen Sälen [9]

3

Landgericht

3

15 Laptops

5 Videokonferenzanlagen

In allen Sälen [80]

5

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht

1

0

Entfällt [28]

Entfällt

Sozialgericht

0

2

In allen Sälen [14]

2 mündliche Verhandlungen

2 Erörterungstermine

Verwaltungsgericht

1

1

13/13

2

Oberverwaltungsgericht

1

0

Entfällt [4]

Entfällt

Finanzgericht

5

1

Enfällt

5

 

Alle stationären und mobilen Geräte wurden in den Antworten als einsatzbereit bewertet und die Mobilgeräte mit wenigen Ausnahmen als in allen Sälen einsetzbar. Soweit angegeben, handelt es sich bei den Videokonferenzanlagen um solche des Typs Cisco (Webex) Room 55, bei den Tischgeräten um das Modell Cisco (Webex) Desk (Pro).

Zusätzliche limitierende Faktoren

Als begrenzenden Faktor für zeitgleiche Verhandlungen gaben mehrere Gerichte die mangelnde Leistungsfähigkeit bzw. Bandbreite des Internetanschlusses an. Einige Gerichte berichteten zudem, dass die Anzahl der zur Verfügung stehenden (Webex-)Lizenzen die Anzahl der gleichzeitig möglichen Videoverhandlungen begrenzt. Auch insoweit erscheint uns die Antwort der damaligen Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung verfälschend, da selbst die vorhandenen „digitalen Gerichtssäle“ nicht uneingeschränkt nutzbar sind.

Eher uneinheitlich wurde bewertet, mit welcher mobilen Ausstattung eine Videoverhandlung möglich ist. Für nichtöffentliche (Erörterungs-)Termine und bestimmte Anhörungen kann hierzu bereits ein Notebook mit Webcam genügen, während für mündliche Verhandlungen mindestens zwei Notebooks für erforderlich erachtet werden.

In der folgenden Tabelle haben wir die Anzahl der gleichzeitig für eine Videokommunikation nutzbaren Säle (siehe oben zu Frage 4) ins Verhältnis zur Anzahl der am jeweiligen Gericht verfügbaren Verhandlungssälen gesetzt (siehe oben zu Frage 3). Das Ergebnis spricht für sich:

AG Charlottenburg

Entfällt

AG Kreuzberg

11 %

AG Köpenick

100 %

AG Lichtenberg

43 %

AG Mitte

25 %

 

AG Neukölln

57 %

AG Pankow

38 %

AG Schöneberg

21 %

AG Spandau

20 %

AG Tiergarten

5 %

AG Wedding

33 %

Landgericht

6 %

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht

4 %

Sozialgericht

29 %

Verwaltungsgericht

15 %

Oberverwaltungsgericht

25 %

Finanzgericht

100 %

Bedarfsdeckung ungewissSoweit die Gerichte Angaben zur Nachfrage gemacht haben, decken die vorhandenen Kapazitäten den derzeitigen Bedarf, scheinen Angebot und Nachfrage also derzeit (mindestens) ausgeglichen zu sein. Unklar ist jedoch, ob die Kolleginnen und Kollegen Videosäle noch nicht in größerem Maße nachfragen, weil sie wissen, dass diese nicht ausreichend vorhanden sind oder ob der derzeit von Rechtssuchenden nachgefragte Bedarf nicht höher ausfällt. Ob die vereinzelt berichtete Bedarfsdeckung flächendeckend vorliegt, kann mangels entsprechender Angaben für alle Gerichte nicht beurteilt werden.

Schwer absehbar ist auch, ob die vorhandenen Kapazitäten einer künftig steigenden Nachfrage gerecht werden können. Angaben dazu, wie viele Termine im Wege der Bild- und Tonübertragung in Berlin durchgeführt werden, liegen nicht vor. Bundesweite Schätzungen auf Basis der in anderen Ländern erhobenen Zahlen gehen derzeit instanzübergreifend von 5 bis 10 Prozent aus. Ob eine (weitere) Ausstattung mit stationärer und/oder mobiler Videotechnik angezeigt ist, kann daher allein anhand unserer Erhebung nicht festgestellt werden. Die Entscheidungen hierüber müssen die derzeit langwierigen Beschaffungsprozesse und Lieferzeiten bei zeitlich begrenztem technischem Support für die meisten Produkte berücksichtigen, so dass eine frühzeitige Information über eine steigende Nachfrage nach Videoverhandlungen nötig erscheint.

SchlussfolgerungFestzuhalten bleibt, dass es um die Ausstattung der Berliner Gerichte mit Videokonferenztechnik nicht so gut bestellt ist, wie die Antwort der Senatsverwaltung auf die Anfrage des Abgeordneten glauben machen wollte. Der Justiz schaden solche beschönigenden Lobgesänge.

Während die Bürgerinnen und Bürger regelmäßig „zoomen“, „facetimen“ und „skypen“, scheinen „Verhandlungen im Wege der Bild- und Tonübertragung“ (vgl. § 128a ZPO, § 102a VwGO, § 110a SGG, § 91a FGG, § 32 Abs. 3 FamFG, § 46 ArbGG) trotz Pandemie im Berliner Gerichtsalltag noch die Ausnahme geblieben zu sein. Statt Abgeordneten und Bevölkerung dreiste Ungenauigkeiten aufzutischen, sollten wir gemeinsam daran arbeiten, die Möglichkeiten der Videoverhandlung für die Rechtssuchenden und die Kolleginnen und Kollegen zu verbessern. Das digitale Zeitalter ist auch für die Justiz längst angebrochen, wenn auch mit Verspätung und Zurückhaltung.

Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten vom 23. Mai 2023 enthält eine Neufassung von § 128a ZPO, die über entsprechende Verweisnormen auch in einigen anderen Verfahrensordnungen gelten soll. Der Entwurf sieht vor, dass der Vorsitzende, wenn alle Prozessbevollmächtigten ihre Teilnahme per Bild- und Tonübertragung beantragen, diese anordnen soll. Die Ablehnung eines Antrags auf Teilnahme per Bild- und Tonübertragung ist zu begründen (vgl. § 128a Abs. 2 ZPO Reg-E). Die vorgesehene Regelung könnte den Dornröschenschlaf der Videoverhandlung beenden. Denn Anwaltschaft und kostenbewusste Mandantschaft können dann die Vorzüge der Videoverhandlung durchsetzen; der Regierungsentwurf selbst geht davon aus, dass künftig etwa 15 Prozent der Termine per Video stattfinden werden. Ab dann werden die „Videoverhandlungssäle“ zu einem begehrten Gut, das den Gesetzmäßigkeiten von Angebot und Nachfrage unterliegt. Wie die leeren Klopapier- und Nudelregale in der Frühphase der Pandemie gezeigt haben, ist ein rechtzeitiger Blick auf das „Angebot“ verfügbarer „Videoverhandlungssäle“ nun umso wichtiger. Engpässen muss frühzeitig entgegengewirkt werden, um die Justiz als Dienstleister funktionsfähig zu halten und Frust bei den am Rechtsstreit Beteiligten sowie bei Richterinnen und Richtern abzuwenden. Packen wir es an!

Dr. Hagemeyer-Witzleb und Dr. Schifferdecker