Justiz zu Zeiten der Coronapandemie

Die Ereignisse der letzten Wochen haben sich überschlagen. Ab Anfang März verdichteten sich die Anzeichen, dass auch das Land Berlin von der Corona-Pandemie erfasst werden wird. Ein Überblick.

Schneller Notfallbetrieb – Respekt für Präsidien und Gerichtsleitungen

Die Ereignisse der letzten Wochen haben sich überschlagen. Ab Anfang März verdichteten sich die Anzeichen, dass auch das Land Berlin von der Corona-Pandemie erfasst werden wird. Am 13. März 2020 hat der Berliner Senat die Schließung von Schulen und Kindergärten beschlossen. Ab dem 17. März 2020 gab es Einschränkungen im Justizvollzug, ab dem 18. März wurden die Gerichte nach und nach im Notbetrieb geführt. Für die Justiz waren dies Tage einer großen Unsicherheit, großer Verwirrung und einiger Konflikte. Noch nie bestand ein derart starkes Spannungsverhältnis zwischen dem Justizgewährleistungsanspruch und dem Gesundheitsschutz. Hinzu kamen die vielen Ungewissheiten im persönlichen Bereich jeder und jedes Einzelnen.

Den Gerichtsleitungen und Präsidien gilt für ihr schnelles Handeln in dieser Situation uneingeschränkter Respekt. In besonderer Eile, ohne Erfahrung aus früheren Situationen und – nach unserer Kenntnis – ohne Leitlinien aus der Senatsverwaltung wurden die einzelnen Häuser in den Notbetrieb überführt. Der Erklärungs- und Rechtfertigungsbedarf war enorm. Es wurde in dieser Situation besonders deutlich, dass gerade Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte solche Regelungen kritisch hinterfragen und mit Anregungen sowie Verbesserungsvorschlägen nicht sparen – eine hohe Kommunikationsbelastung für die Verantwortlichen. Für ihren Einsatz ein herzliches Dankeschön. Mittlerweile werden alle Berliner Gerichte in einem Notbetrieb geführt. Eine (leider unvollständige) Übersicht bietet die Senatsverwaltung auf ihrer Webseite. Die Regelungen zum Notfallbetrieb und die Organisationsdetails sind weiter Gegenstand von Diskussionen, in denen die Risiken für die Gesundheit und die Belastungen durch einen Teilstillstand der Rechtspflege abgewogen werden müssen.

Auch der Senator für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung, Dr. Behrendt, hat sich am 25. März 2020 an die Bürgerinnen und Bürger gewandt. Eine sehr begrüßenswerte Reaktion, deren Fehlen wir gegenüber unseren Mitgliedern mit Brief vom 17. März 2020 noch deutlich kritisiert hatten.

Dr. Stefan Schifferdecker

 

Senatorenbrief vom 25. März 2020

Der Senator für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung, Dr. Behrendt, hat einen Brief veröffentlicht, in dem er über Maßnahmen informiert, welche die Senatsverwaltung ergriffen hat. Im Brief wird kein Datum angegeben, das Erstelldatum der Datei lautet „25.03.2020“. Wir begrüßen diese Information sehr, da wir in Krisenzeiten aktuelle Informationen der Bürgerinnen und Bürger sowie der Anwaltschaft für besonders wichtig halten, um die Verlässlichkeit der Justiz zu belegen. Den Brief finden Sie hier.

 

Unser Mitgliederbrief vom 17. März 2020

Zum Thema gehört auch unser Mitgliederbrief.

 

 

Kindernotbetreuung auch für Justizbeschäftigte

Die Berliner Schulen, Kitas und Kindertagespflegestellen sind bis zum Ende der Osterferien (17. April 2020) geschlossen. Eltern, die in systemrelevanten Berufen arbeiten und keine andere Möglichkeit der Kinderbetreuung haben, können eine Notbetreuung in Anspruch nehmen.

Der Senat von Berlin hat sich auf anspruchsberechtigte Berufsgruppen für die Kita- und Schulnotversorgung verständigt. Darunter fallen z.B. Krisenstabspersonal, betriebsnotwendiges Personal des öffentlichen Nahverkehrs sowie von Versorgungsunternehmen, betriebsnotwendiges Personal und Schlüsselfunktionsträger in öffentlichen Einrichtungen und Behörden von Bund und Ländern, Senatsverwaltungen und nachgeordneten Behörden sowie Personal, das die Notversorgung in Kita und Schule sichert und sonstiges betriebsnotwendiges Personal der kritischen Infrastruktur und der Grundversorgung. Anders als in Brandenburg wird – auch in der aktualisierten, am 22. März 2020 in Kraft getretenen Fassung der Verordnung – die Rechtspflege nicht ausdrücklich als systemrelevanter Bereich genannt. Als problematisch könnte sich erweisen, dass auch in der von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie mit Stand vom 23. März 2020 veröffentlichten „Konkretisierung der systemrelevanten Bereiche, die Anspruch auf eine Kita- oder Schulnotbetreuung haben“ keine Berufsbezeichnungen aufgeführt werden, die Bezug zur Rechtspflege haben (ausgenommen Justizvollzug). Ein misslicher Umstand, der – dabei bleiben wir – dem Justizsenator auffallen müsste.

Nach unseren Informationen vertritt jedoch die Senatsverwaltung die – unseres Erachtens zutreffende – Ansicht, dass Personen, die zur Aufrechterhaltung der Grundfunktionen der Rechtspflege unabdingbar sind, unter die Fallgruppe „Betriebsnotwendiges Personal und Schlüsselfunktionsträger in öffentlichen Einrichtungen …“ fallen. Uns sind glücklicherweise auch noch keine Fälle bekannt, in denen Wachtmeisterinnen, Geschäftsstellenkollegen oder Richterinnen und Richter oder Staatsanwältinnen und Staatsanwalte mit Bereitschaftsdienst und/oder Präsenzpflicht, keine Kindernotbetreuung in Anspruch nehmen konnten. Vorgesehen ist zudem nur eine Selbsterklärung der Eltern gegenüber den Betreuungseinrichtungen. Im Grundsatz ist deshalb eine Bescheinigung der Dienststelle nicht notwendig. Falls dies im Einzelfall von Schulen oder Kitas verlangt werden sollte, dürfte eines solche von den Gerichten selbstverständlich ausgestellt werden.

Dr. Stefan Schifferdecker

 

Wie weiter in der Krise?

„Wir fahren auf Sicht“ erklärte der Präsident des Sozialgerichts, Herr Helbig, auf die Frage zu weiteren Entwicklungen. Der Satz beschreibt anschaulich, dass derzeit weder die Politik, noch die Verwaltungen, noch Virologen genau wissen, welche Entscheidungen uns in den nächsten Wochen abverlangt werden.

Wer die Berichte über die Entwicklung der Pandemie verfolgt, wird zustimmen, dass uns die Einschränkungen unserer Arbeit zum gesundheitlichen Schutz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie der Prozessbeteiligten noch lange begleiten werden. Es dürfte davon auszugehen sein, dass die Arbeit der Justiz über viele Monate in der ein oder anderen Weise und Stärke beeinträchtigt sein wird. Nach dem ersten Schock und dem Umschalten in den Notbetrieb der Behörden und Gerichte müssen wir unsere Arbeit nun gemeinsam neu ausrichten. Dafür müssen wir planen.

Derzeit gilt es, den Notbetrieb der Behörden und Gerichte zu stabilisieren und nicht vorschnell zulasten des Gesundheitsschutzes die auferlegten Beschränkungen über Bord zu werfen. Wir müssen dabei sorgsam ausloten, welche Maßnahmen der Rechtpflege in der aktuellen Situation zwingend aufrechterhalten werden müssen und welche Beschränkungen vorübergehend hingenommen werden können. Dies gilt zunächst für die Zeit bis zum Ende der Osterferien. Denn das ist zunächst der Zeithorizont, für welchen die aktuellen Notfallmaßnahmen gelten.

In einer nächsten Stufe ist für den Fall der Lockerungen der aktuellen Kontaktbeschränkungen ein Grundbetrieb zu planen. Wir benötigen eine
– möglichst einheitliche – Priorisierung der Abläufe für die Zeit, in der zwar Beschränkungen reduziert werden, erhebliche Gesundheitsrisiken jedoch fortbestehen. Hierfür müssen Entscheidungen getroffen werden, in welcher Art und Weise wir die Justiz wieder „anfahren“ lassen sowie welche Verfahren und Arbeitsschritte zunächst weiter unbearbeitet bleiben. Legen alle Kolleginnen und Kollegen die in der Notfallzeit erarbeiteten Ergebnisse gleichzeitig den Geschäftsstellen vor, greifen alle zugleich beherzt nach der mittlerweile eingegangenen Post, blockieren wir unsere Arbeit wieder. Richterinnen und Richter entscheiden zwar unabhängig über ihre Dienstgeschäfte. Diese sind aber davon abhängig, dass sie von dem nichtrichterlichen Personal auch ausgeführt werden können. Wir schulden uns insoweit gegenseitige Rücksichtnahme.

Sollte unserer Gesellschaft ein Abflachen der Neuinfektionskurve gelingen, können wir irgendwann vorsichtig mit einem Normalbetrieb unserer Arbeit beginnen. In dieser weiteren Stufe werden uns die Ansteckungsrisiken weiter – möglicherweise über Monate – begleiten. Für diesen Fall benötigen wir umsetzbare Ideen und Planungen, um den Justizgewährleistungsanspruch und den Gesundheitsschutz gleichermaßen zu verwirklichen. Wir wollen uns gemeinsam mit den Justizverwaltungen einbringen und arbeiten bereits an einem Projekt. Mitstreiter sind herzlich willkommen.

Ein schnelles Zurück zu der uns bekannten Normalität wird es nicht geben. Wir haben viel zu tun!

Dr. Stefan Schifferdecker