Die verfassungswidrige Besoldung kinderreicher Familien in Berlin

Unsere Berechnungen und Forderungen für kinderreiche Familien

 

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur evident unzureichenden Besoldung der Berliner Richter ist in Berlin auf große Resonanz gestoßen, während der am Folgetag veröffentlichte Beschluss zur Besoldung kinderreicher Familien in Nordrhein-Westfalen nur wenigen bekannt ist. Dabei wird sich dieser Beschluss (BVerfG, Beschl. v. 04.05.2020, Az. 2 BvL 6/17), der inhaltlich auf Berlin übertragbar ist, erheblich auf die Besoldung von Familien mit mehr als 2 Kindern auswirken. Wie nachfolgend aufgezeigt wird, beträgt die Unteralimentation seit 2013 monatlich für die Besoldungsgruppe R1 etwa 56 € netto für das 3. Kind und hat und hat sich inzwischen auf rund 131 € netto monatlich im Jahr 2020 gesteigert. Für Familien mit 4 Kindern liegen die Zahlen deutlich höher. Somit sind Besoldungswidersprüche nach wie vor begründet, wenn für mehr als 2 Kinder Kindergeld bezogen wird.

Im Vorlageverfahren zum Az. 2 BvL 6/17 haben die Kläger der Ausgangsverfahren vor dem VG Köln geltend gemacht, dass ihre Besoldung (jeweils R2 mit Zulagen für 3 bzw. 4 Kinder) in den Jahren 2013 bis 2015 aufgrund ihrer Kinderzahl verfassungswidrig zu niedrig bemessen sei. Das VG Köln hat die Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Prüfung vorgelegt, ob die einschlägigen Besoldungsvorschriften in Nordrhein-Westfalen mit Art. 33 Abs. 5 GG vereinbar seien. Dies verneint das Bundesverfassungsgericht und rechnet vor, dass der den Klägern aufgrund ihrer Kinderzahl ausgezahlte Nettomehrbetrag nicht einmal die Grundsicherung dieser Kinder abdeckt. Eine amtsangemessene Besoldung (d.h. Grundsicherung + 15 %) werde deutlich unterschritten, nämlich in Höhe von 95 € im Jahr 2013 für das dritte Kind und in Höhe von rund 180 € in den Jahren 2014 und 2015 für das dritte und vierte Kind zusammen, beide Beträge jeweils monatlich netto. Wie den Tabellen unten zu entnehmen ist, errechnet sich für R2 in Berlin eine Unterdeckung von 110 € in 2013 (drittes Kind) und rund 210 € in den Jahren 2014 und 2015 (drittes und viertes Kind).

Ausgangspunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist, dass das Berufsbeamtentum seine Aufgaben nur erfüllen kann, wenn es rechtlich und wirtschaftlich gesichert ist. Dabei hat der Besoldungsgesetzgeber die Besoldung so zu regeln, dass Richter und Beamte nicht vor die Wahl gestellt werden, entweder eine ihrem Amt angemessene Lebensführung aufrechtzuerhalten oder, unter Verzicht darauf, eine Familie zu haben und diese entsprechend den damit übernommenen Verpflichtungen angemessen zu unterhalten (BVerfG, Beschluss vom 04. Mai 2020 – 2 BvL 6/17 –, Rn. 28 und 29, juris).

Für die sich diesen Grundsätzen anschließende Berechnung ist die Nettobesoldung eines verheirateten Richters mit 2 Kindern die Bezugsgröße, d.h. weder ein Abbild der Realität noch ihr Leitbild, sondern allein der rechnerische Kontrollmaßstab. Diese Bezugsgröße muss für jedes weitere Kind um mindestens dessen Alimentation anwachsen. Daraus folgt:

Netto x-köpfige Familie ≥ Netto 4-köpfige Familie + Alimentation der zusätzlichen Kinder.

Diese einfache Formel ist leider nicht zu verwechseln mit einem zügigen Rechenergebnis.

Die Berechnung der Jahresnettoalimentation muss für jedes Jahr sowohl für die vierköpfige Familie als Bezugsgröße als auch für die darüberhinausgehende Familiengröße erfolgen. Für die Herleitung des Nettobetrages aus dem Brutto (z.B. mithilfe des Rechners unter oeffentlicher-dienst.info) ist pro Jahr zu berücksichtigen die jeweilige R-Besoldung der Endstufe, die wechselnde Kinderzahl, der Steuerklasse III (Einkommenssteuer und Solidaritätszuschlag, keine Kirchensteuer), das jeweilige Veranlagungsjahr und die anteiligen Vorsorgeaufwendungen für Kranken- und Pflegeversicherung. Dem Jahresnettobetrag ist das Jahreskindergeld hinzuzufügen, das nicht für jedes Kind gleich ist und das regelmäßig erhöht wurde, teils unterjährig. In Abzug zu bringen sind die jährlichen Vorsorgeaufwendungen, wieder jährlich bezogen auf die zutreffende Anzahl Kinder.

Für die Alimentation der Kinder ist zuerst der jährliche Grundsicherungsbedarf zu ermitteln. Dazu müssen die Regelsätze von der Geburt bis zur Volljährigkeit gewichtet werden, hinzuzufügen sind Beträge für Kaltmiete (Differenzbetrag zur vierköpfigen Familie nach Mietstufe IV gemäß der Wohngeldverordnung, jährlich indexiert, zuzüglich 10 % Zuschlag), Heizkosten (nach jährlichem Heizspiegel bezogen auf 15 m²) und Bildung und Teilhabe. Das Ergebnis ist mit 1,15 zu multiplizieren, um den Abstand zur sozialen Grundsicherung zu wahren.

Wenn die oben aufgestellte Formel nicht aufgeht, liegt verfassungswidrige Unteralimentation vor.

Kurz gesagt wird jeder vernunftbegabte Mensch abwarten, ob nicht ein anderer rechnet. Da die Richterschaft aber nicht einzig auf das Rechenwerk des Finanzsenators vertrauen sollte, haben wir Tabellen erstellt, von denen für die bessere Lesbarkeit nur die wesentlichen Zeilen hier abgebildet werden. Die Zahlen erheben keinen Anspruch auf exakte Richtigkeit. Sie berücksichtigen nicht, dass in Berlin für ab dem 4. Kind monatlich 5 € weniger Wohnkosten erstattet werden. Auch die Auswirkung der steuerlichen Absetzbarkeit von Vorsorgeaufwendungen kann teilweise geringfügig zu niedrig erfasst sein. Zum Ausgleich berücksichtigen die Tabellen nicht die geldwerten Vorteile im Bereich der Daseinsvorsorge, die Empfänger von Grundsicherungsleistungen erhalten. Diese sind statistisch noch nicht erfasst, aber zu berücksichtigen (BVerfG, a.a.O., Rnr. 60 ff.). Angesichts der ohnehin deutlichen Unteralimentation konnte das Bundesverfassungsgericht deren Höhe offenlassen, Berlin wird das bei der Neubemessung der Besoldung nicht können.

Differenzberechnung R1 für 3 Kinder

 

 

2013

2014

2015

2016

2017

2018

2019

2020

 

Jahresnetto 2 Kinder

55218,80

56807,30

58699,15

60107,52

61593,06

63385,72

65803,72

68309,07

Jahresnetto 3 Kinder

60330,24

61790,56

63357,90

64847,91

66408,31

68291,52

70863,59

73490,47

Differenz

5111,44

4983,26

4658,75

4740,39

4815,25

4905,80

5059,87

5181,40

Alimentation für 3. Kind

5790,34

5922,82

5993,89

6073,85

6259,38

6341,93

6449,60

6756,17

Jahresfehlbetrag

678,90

939,56

1335,14

1333,46

1444,13

1436,13

1389,73

1574,77

R1 Monatsfehlbetrag

56,58 €

78,30 €

111,26 €

111,12 €

120,34 €

119,68 €

115,81 €

131,23 €

R2 Monatsfehlbetrag

110,54 €

117,25 €

115,36 €

115,39 €

124,76 €

124,43 €

119,91 €

139,56 €

 

 

Differenzberechnung R1 für 4 Kinder

 

2013

2014

2015

2016

2017

2018

2019

2020

Jahresnetto 2 Kinder

55218,80

56807,30

58699,15

60107,52

61593,06

63385,72

65803,72

68309,07

Jahresnetto 4 Kinder

65107,65

66624,15

68287,00

69856,51

71489,91

73461,90

76188,03

78970,33

Differenz

9888,85

9816,85

9587,85

9748,99

9896,85

10076,18

10384,31

10661,26

Alimentation für 3. und 4. Kind

11580,68

11845,64

11987,78

12147,69

12518,76

12683,86

12899,19

13512,34

Jahresfehlbetrag

1691,83

2028,79

2399,93

2398,70

2621,91

2607,68

2514,88

2851,08

R1 Monatsfehlbetrag

140,99 €

169,07 €

199,99 €

199,89 €

218,49 €

217,31 €

209,57 €

237,59 €

R2 Monatsfehlbetrag

198,54 €

211,94 €

208,18 €

208,25 €

227,50 €

226,64 €

219,73 €

251,33 €

 

Das Land Berlin muss nun die Zulagen für kinderreiche Familien neu berechnen und zügig anpassen. Diese Anpassung ist unabhängig von der Neujustierung der amtsangemessenen Grundbesoldung nach Maßgabe der Berliner Besoldungsentscheidung, für die das Bundesverfassungsgericht eine Frist bis zum 31.07.2021 eingeräumt hat. Sinnvollerweise werden alle verfassungswidrigen Besoldungsanteile in einem Zug korrigiert, anderenfalls sind weitere Vorlagen vor dem Bundesverfassungsgericht erforderlich.

Charlotte Maus