Asylverfahren in Frankreich – EJTN-Austausch am französischen Asylgericht

Richterin Camilla Schloss besuchte im Rahmen eines Austausches, organisiert durch das European Judicial Training Network (EJTN), das Pariser Gericht für Asylverfahren. Sie schildert uns ihre Eindrücke und zeigt Unterschiede im Vergleich zum deutschen Asylverfahren auf.

Ein Gericht für alle Asylklagen landesweit. Das gibt es in Frankreich, in Montreuil, einem Vorort von Paris. Die günstigeren Immobilienpreise der einstigen Arbeiter- und Einwanderergemeinde führten dazu, dass eine Vielzahl an Verwaltungsgebäuden, wie das Cour nationale du droit d’asile, dort einzogen. An diesem französischen Asylgericht hospitierte ich eine Woche lang über das europäische Austauschprogramm EJTN.


Für einen Verwaltungsrichter aus Hamburg und mich hatte das Gericht ein straffes Programm zusammengestellt. Neben der Begleitung der Verhandlung des Vizepräsidenten führten wir Gespräche mit zahlreichen Richtern und Mitarbeitern, um zu verstehen, wie unser Nachbarland mit dem hohen Asylklageaufkommen seit 2017 umgeht. Mit großem Interesse beobachtete ich in dieser Woche, wie Rechtsnormen der Genfer Flüchtlingskonvention und der europäischen Qualifikationsrichtlinie in zwei Mitgliedstaaten unterschiedlich angewendet werden und wie der Entscheidungsprozess unterschiedlich verläuft. Mit Letzterem befasst sich dieser Artikel. Bei einem Blick auf das Programm wurde bereits deutlich, dass eine große Aufgabenteilung an dem Gericht herrscht. Ein Richter erklärte, man sei bemüht, das Gerichtsverfahren zu „industrialisieren“.

An einem Montagmorgen im letzten Sommer schnappte ich mir vor meiner – großzügig durch die Europäische Union finanzierten – Unterkunft bei République ein Fahrrad. Ich befuhr die Boulevard Voltaire vorbei am Place de la Nation und überquerte die Boulevard Périphérique. Die Hausmann-Architektur wurde durch kleine Häuserreihen ersetzt. Ich bestaunte die Bioläden, Cafés und zu Lofts umgebauten Werkstätten, welche die Gentrifizierung von Montreuil ankündigten. Schnell befand ich mich vor einem großen, funktional-modernen Gebäudekomplex. Ich erkannte an der Traube von Menschen verschiedener Hautfarbe und mit verschiedenen Kleidungsstilen, die am bewachten Eingang anstanden, dass ich das Ziel erreicht hatte. Zunächst erhielten wir eine Einführung über das Gericht von einem Richter, der es immer wieder vermochte, auch die Parallelen zur deutschen Gerichtsorganisation
aufzuzeigen. Anders als in Deutschland ist für Asylentscheidungen nicht das Verwaltungsgericht, sondern das Asylgericht zuständig. Grund hierfür sei, so der Richter, dass die Beschwerdekommission für Flüchtlinge (der Vorgänger des Asylgerichts) zur Umsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention bereits 1952 geschaffen wurde, während die Verwaltungsgerichte (tribunaux administratifs) erst ein Jahr später errichtet wurden.


Die Tatsache, dass es eine spezielle Gerichtszuständigkeit für Asylsachen gibt, führt zu einer Reihe von Unterschieden zum deutschen Schutzsystem. Bereits bei der ersten Lektüre französischer Urteile zu Asylsachen stellte ich fest, dass Abschiebungsverbote nicht tenoriert werden. Der Vizepräsident erklärte uns beim Mittagessen in der Kantine: Vor dem Asylgericht kann sich ein Kläger gegen Entscheidungen des Office Français de Protection des Réfugiés et Apatrides (OFPRA, dem französischen BAMF) wehren. Das OFPRA entscheidet nur über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung des subsidiären Schutzes, nicht über Abschiebungsverbote etwa aus humanitären Gründen.


2017 sei es zu einem deutlichen Anstieg der Asylklagen um 33 % auf 53.600 gekommen, schilderte uns der Generalsekretär des Gerichts und drückte uns eine Vielzahl von Broschüren in die Hand. Aus dem Tätigkeitsbericht für 2019 ergibt sich, dass im vergangenen Jahr knapp 59.000 Klagen eingegangen und 66.500 Entscheidungen gefällt worden sind. Die durchschnittliche Verfahrensdauer betrug sieben Monate und fünf Tage. Die durchschnittliche erwartete Verfahrensdauer für eine Ende 2019 eingereichte Klage betrug fünf Monate und neun Tage. Damit hat sich die Verfahrensdauer in den letzten zehn Jahren auf ein Drittel reduziert. Man sei bemüht, den Prozess weiter zu straffen, um die gesetzlichen Vorgaben zur Dauer der Verfahren (fünf Monate für Kammerentscheidungen und fünf Wochen für Einzelrichterentscheidungen) einzuhalten.


2019 fanden 5300 Verhandlungen statt. Die Verhandlungssäle sind mit Computern für die Richter und Mitarbeiter des Gerichts ausgestattet. Mit den Klägern, die sich in französischen Überseegebieten (wie Guadeloupe und La Réunion) befinden, werden Videoverhandlungen durchgeführt. Dass die Verhandlungen deutlich kürzer als in Deutschland verlaufen, konnte ich bei einem Gang durch den von den Büros getrennten Gebäudeteil für die Verhandlungen erkennen. Dort herrschte ein geschäftiges Treiben. Auf zwei Etagen führten die Verhandlungssäle jeweils links und rechts von langen Fluren ab. Die Türen zu den Verhandlungssälen standen offen. Immer wieder betrat und verließ jemand während der laufenden Verhandlung den Saal. Bei einem Blick auf den Terminsaushang stellte ich mit Erstaunen fest, dass bis zu dreizehn Verhandlungen pro Kammer anberaumt worden waren. Eine gestaffelte Ladung der Kläger erfolgte nur grob auf den Vor- bzw. Nachmittag. Der große Warteraum vor den Verhandlungssälen war gefüllt mit Klägern, die auf ihren Aufruf warteten.

Den Terminsaushängen ließ sich eine Spezialisierung auf Herkunftsländer nicht entnehmen. Eine Zuständigkeitsaufteilung unter den Kammern nach Ländern sei diskutiert, aber bisher verworfen worden, führte eine Kammervorsitzende aus. Ihr persönlich gefalle auch die Vielfalt. Um sicherzustellen, dass sie über hinreichende Kenntnisse zu dem jeweiligen Land verfügen und die organisatorischen Aufgaben bewältigen könne, stünden ihr eine Reihe von Institutionen am Gericht unterstützend zur Verfügung.

Im Laufe der Woche konnten wir über die Gespräche mit Repräsentanten der einzelnen Institutionen mehr über die Delegation der Aufgaben erfahren: So führt nach Eingang der Klage die Eingangsregistratur (service central d’enrôlement) das Verfahren. Sie terminiert mit drei Wochen Vorlauf die Verhandlung und teilt erst dann das Verfahren einer Kammer zu. Zuvor hat in 98% der Verfahren eine unabhängige Stelle (bureau d’aide juridictionnelle) Prozesskostenhilfe bewilligt. Die Richterin selbst befasst sich mit der elektronischen Akte erst zwecks Verhandlungsvorbereitung.

Hierfür bekommt sie aber auch Unterstützung. Ein sog. Rapporteur bereitet in den drei Wochen vor der Verhandlung ein Votum für die Kammer vor. In diesem Votum, so erklärte uns Elise, die seit ihrem Politik-Masterstudium vor drei Jahren als Rapporteur arbeitet, fasst sie die Behördenentscheidung zusammen, bereitet die geopolitische Lage des Herkunftslandes sowie die tatsächlichen und rechtlichen Besonderheiten des Einzelfalls auf und schlägt Fragen für die mündliche Verhandlung vor. Dabei können die Kammer und der Rapporteur auf das Dokumentations- und Forschungszentrum des Gerichts (CEREDOC) zurückgreifen. Dieses Zentrum erstellt detaillierte Berichte zur geopolitischen Lage der einzelnen Herkunftsländer, analysiert die Urteile des Gerichts und sammelt Leitentscheidungen zum Zwecke der „Vereinheitlichung“ der Rechtsprechung.

Auch während der Verhandlung sind die Aufgaben verteilt. Eine Geschäftsstelle überwacht die Formalitäten. Eine Protokollierung findet nicht statt. Der Rapporteur verliest den Sachbericht des Votums. Die Kammer richtet nun Fragen an die Klägerin. Dabei stellt sie grundsätzlich keine offenen Fragen zur Fluchtgeschichte, sondern konkrete Fragen zu Widersprüchen zur behördlichen Anhörung. Anschließend hält der Anwalt der Klägerin ein Plädoyer. Ähnlich wie beim BAMF erscheint eine Behördenvertreterin regelmäßig nicht. Eine Entscheidung wird der Klägerin einige Wochen später zugesandt. Hierfür entwirft der Rapporteur für die Kammer das Urteil. Dieses wird grundsätzlich durch einen knappen, eher feststellenden als begründenden Ton geprägt.

Die Unterschiede, die wir im Vergleich zu unseren deutschen Asylverfahren erkennen konnten, regten interessante Diskussionen mit den Richtern und Mitarbeitern an. Nach der einwöchigen Hospitation waren wir begeistert von dem sehr persönlichen Austausch. So ermöglichte dieser Praxisvergleich, Ideen der Verfahrensbeschleunigung und Effizienzgewinnung zu entwickeln und zugleich in anderen Punkten die eigene Arbeitsweise mit Blick etwa auf die richterliche Unabhängigkeit und Gründlichkeit wertzuschätzen.

Camilla Schloss