Zweite Auflage: Der Rechtsstaatlichkeitsbericht der Europäischen Kommission

Der am 20. Juli 2021 vorgelegte Rechtsstaatlichkeitsbericht setzt sich aus einem allgemeinen, EU-weite Tendenzen aufzeigenden Teil und einzelnen Länderkapiteln für jeden der 27 Mitgliedstaaten zusammen und nimmt u. a. das Justizwesen unter die Lupe

Das Thema Rechtsstaatlichkeit gehört zu den wichtigsten Themen des Kabinetts von der Leyen. Spätestens seitdem manche Mitgliedstaaten damit begonnen haben, ihre Justizsysteme umzubauen, um politische Einflussnahme zu ermöglichen, steht es darum aber nicht sonderlich gut bestellt. Das Verfahren nach Art. 7 EUV, das im Fall der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte (Rechtsstaatlichkeit u. a.) Sanktionen vorsieht, die bis hin zum Stimmrechtsentzug reichen, hat sich als zahnloser Tiger erwiesen. Sanktionen können im Rat nur einstimmig beschlossen werden. Das ermöglicht Polen und Ungarn seit Jahren, sich gegenseitig zu decken und die Verfahren des jeweils anderen zu blockieren.

Um die Rechtsstaatlichkeit besser zu schützen, haben das Europäische Parlament und der Rat sich im vergangenen Jahr zwar auf einen Konditionalitätsmechanismus geeinigt, der die Möglichkeit eröffnen soll, bei bestimmten Verstößen den betroffenen Mitgliedstaaten ihre im EU-Haushalt zugewiesenen Mittel zu kürzen. Für die konkrete Umsetzung muss die Kommission aber zunächst noch Leitlinien entwickeln. Ab welchem Zeitpunkt der Mechanismus anzuwenden ist, darüber streiten die europäischen Institutionen. Der Rat hat in seinen Schlussfolgerungen im Dezember letzten Jahres deutlich gemacht, dass in dem Fall, dass eine Nichtigkeitsklage gegen die Konditionalitätsregelung erhoben wird, die Leitlinien der Kommission erst fertiggestellt werden dürfen, wenn der EuGH über die Wirksamkeit der Regelung entschieden hat.

Da Polen und Ungarn, die sich bis zuletzt gegen die Aufnahme einer Konditionalitätsregelung gewehrt haben, erwartungsgemäß Klagen gegen die Regelung eingereicht haben, darf sie nach der Auffassung des Rates also vorerst nicht angewendet werden. Hingegen pocht das Parlament auf eine unverzügliche Umsetzung des Mechanismus. Währenddessen ist die Kommission noch damit beschäftigt, ihre Anwendungsleitlinien zu entwickeln. Wann der EuGH über die Klagen Ungarns und Polens entscheiden wird, ist nicht absehbar. Das Parlament verliert jedenfalls allmählich seine Geduld und drohte zuletzt damit, die Kommission wegen Untätigkeit zu verklagen.

Welche Instrumente zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit stehen der Kommission noch zur Verfügung? Seit 2013 veröffentlicht sie mit dem EU-Justizbarometer jedes Jahr einen Überblick über die Effizienz, Qualität und Unabhängigkeit der Justizsysteme in allen Mitgliedstaaten. Im Herbst vergangenen Jahres hat sie ihrem Werkzeugkasten ein weiteres hinzugefügt: den Rechtsstaatlichkeitsbericht. Am 20. Juli 2021 hat die Kommission nunmehr die zweite Auflage des Berichts vorgelegt. Der Bericht, der sich aus einem allgemeinen, EU-weite Tendenzen aufzeigenden Teil und einzelnen Länderkapiteln für jeden der 27 Mitgliedstaaten zusammensetzt, nimmt u. a. das Justizwesen unter die Lupe.

Hohes Niveau der wahrgenommenen Unabhängigkeit der Justiz in Deutschland

Deutschland schneidet auch in diesem Jahr insgesamt wieder gut ab. Das zeigt sich etwa an der wahrgenommenen Unabhängigkeit der Justiz. Diese hatte die Kommission bereits für das Anfang Juli erschienene EU-Justizbarometer 2021 erfragt. Deutschland steht hier zusammen mit Österreich, Finnland, den Niederlanden und Luxemburg mit einem Wert von mehr als 75 % in der Spitzengruppe. Dagegen ist in Kroatien, Polen und der Slowakei die wahrgenommene Unabhängigkeit weiterhin sehr niedrig (unter 30 %). Zwar hat das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Unabhängigkeit der Justiz seit dem Jahr 2016 in zwei Fünfteln der Mitgliedstaaten zugenommen. Getrübt wird die Freude über den Zuwachs jedoch durch die Feststellung, dass dieses Vertrauen in etwa zwei Fünfteln der Mitgliedstaaten im vergangenen Jahr nachgelassen hat. Für Deutschland gilt erfreulicherweise, dass der vergleichsweise hohe Grad an wahrgenommener Unabhängigkeit der Justiz in den letzten fünf Jahren insgesamt stabil geblieben ist.

Reformen fast überall

Bereits im vergangenen Jahr hatte die Kommission festgestellt, dass in einer Reihe von Mitgliedstaaten Schritte unternommen wurden, um die Unabhängigkeit der Justiz zu stärken und den Einfluss der Legislative und der Exekutive auf das Justizsystem zu verringern. Im diesjährigen Bericht konstatiert die Kommission, dass derzeit fast alle Mitgliedstaaten mit Justizreformen befasst seien, deren Ziele, Umfang, Form und Stand der Umsetzung sich jedoch zum Teil stark unterschieden. Schwerpunkte macht sie dabei u. a. im Hinblick auf die Justizräte, die in manchen Mitgliedstaaten für die Besetzung von Richterstellen zuständig sind, die Verfahren zur Ernennung von Richtern, die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft, die Integrität und Rechenschaftspflicht von Richtern und Staatsanwälten sowie die Fortschritte bei der Digitalisierung aus.

Die in Irland und Finnland eingerichteten neuen Justizräte haben zwischenzeitlich ihre Tätigkeit aufgenommen. Zudem führen einige Mitgliedstaaten derzeit Reformen zur Stärkung der dort bereits bestehenden Justizräte durch. Beispielsweise wurden in der Slowakei die Befugnisse des Justizrats erweitert. In Italien wird eine Reform der Wahl der Richter in den Hohen Justizrat im Parlament diskutiert, die auf eine Stärkung ihrer Unabhängigkeit abzielt. Seit dem letzten Rechtsstaatlichkeitsbericht wurden in mehreren Mitgliedstaaten, darunter Tschechien, Lettland und Malta, Reformen zur Stärkung des Ernennungsverfahrens für Richter fortgesetzt. Im Hinblick auf die Situation in Deutschland zeigt die Kommission, dass sie die derzeitige Debatte über die Auswahlkriterien für vorsitzende Richter an Bundesgerichten wahrnimmt, nachdem zuletzt einige Kritik an der vorgeschlagenen Abschaffung spezifischer Erfahrungsanforderungen geäußert wurde.

 

Unabhängigkeit in Gefahr

Der Blick auf manche Mitgliedstaaten erfüllt die Kommission mit zunehmender Sorge. Dies gilt besonders für die Situation der Unabhängigkeit der Justiz in Polen. Anlass sind die dort in den vergangenen Jahren durchgesetzten Justizreformen, mit denen der Landesjustizrat, der für die Ernennung von Richtern zuständig ist, umgebaut und die umstrittene Disziplinarkammer am Obersten Gericht geschaffen worden ist. Die Situation hat sich im vergangenen Jahr noch weiter verschärft. Die Disziplinarkammer, deren politische Unabhängigkeit in Zweifel steht, ist ungeachtet einer entgegenstehenden Eilentscheidung des EuGH von April 2020 weiterhin tätig. Der Konflikt um die Kompetenzen der EU im Bereich der Justiz droht weiter zu eskalieren, nachdem das polnische Verfassungsgericht am 14. Juli 2021 entschieden hat, dass die vom EuGH seinerzeit angeordnete Aussetzung der Tätigkeit der Disziplinarkammer nicht mit der polnischen Verfassung zu vereinbaren und damit unbeachtlich seien. Nur einen Tag später entschied der EuGH nun endgültig, dass die Vorschriften über die Disziplinarkammer gegen Unionsrecht verstießen. Eine Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht.

Aber auch andere Mitgliedstaaten haben mit Problemen zu kämpfen. Rumänien hatte in den Jahren 2017-2019 Justizreformen beschlossen, die mit negativen Auswirkungen für die Unabhängigkeit der Justiz einhergingen. Hier sieht die Kommission jedoch Bemühungen, diese Auswirkungen zu korrigieren. Auch in der Slowakei wurden zwischenzeitlich Maßnahmen ergriffen, um den bisherigen Bedenken an der Integrität und Unabhängigkeit der Justiz zu begegnen. Dagegen werden in Slowenien Ernennungen von Staatsanwälten verzögert. Auch die delegierten Europäischen Staatsanwälte wurden nicht fristgemäß ernannt. In Spanien übt der dortige Justizrat seit Dezember 2018 seine Funktionen interimsweise aus, was die Kommission zunehmend an seiner Unabhängigkeit zweifeln lässt.

Für Deutschland bleibt das Weisungsrecht der Justizminister an die Staatsanwaltschaften ein heikles Thema. Nachdem der EuGH im Mai 2019 Kritik daran geäußert hatte, sollte das Weisungsrecht zumindest bei der justiziellen Zusammenarbeit mit anderen EU-Staaten eingeschränkt werden. Forderungen, es komplett zu streichen, wurden schon seinerzeit nicht gehört. In ihrem aktuellen Rechtsstaatlichkeitsbericht verweist die Kommission noch auf das Gesetzesvorhaben, das zwischenzeitlich aber schon im Frühstadium gescheitert ist, weil die Bundesregierung sich nicht einigen konnte.

Diskussionen um den Vorrang des Unionsrechts

Sorgen bereiten der Kommission außerdem die jüngeren Entwicklungen in der Rechtsprechung der nationalen Gerichte in einigen Mitgliedstaaten, die Bedenken hinsichtlich des Prinzips des Vorrangs des Unionsrechts haben aufkommen lassen. Die Kommission spricht hier explizit das PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 an, in dem das Gericht dem EuGH erstmals die Gefolgschaft verweigert hat und das zwischenzeitlich Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland geworden ist. Die Kommission befürchtet eine negative Vorbildwirkung. Dass diese Sorge nicht unbegründet ist, zeigt sie am Beispiel Polens auf: Die dortige Regierung stellt den Vorrang des Unionsrechts zunehmend in Frage.

Digitalisierung und Personalgewinnung ausbaufähig

Schließlich mahnt die Kommission die nötige Umstellung der Justizsysteme auf das digitale Zeitalter an. Sie stellt fest, dass die weitgehend digital ausgestatteten Justizsysteme mancher Mitgliedstaaten gerade in Krisensituationen wie der gegenwärtigen Pandemie besser funktionieren. In diesem Zusammenhang werden besonders Estland, Lettland und Ungarn positiv hervorgehoben. Gewürdigt wurden auch die Initiativen in diesem Bereich in Belgien, Frankreich, Dänemark, Spanien und den Niederlanden. Zu den laufenden Projekten in Spanien zählt beispielsweise die Entwicklung eines IT-Instruments, mit dem Aufzeichnungen von Gerichtsverfahren und Anhörungen automatisch in Text umgewandelt werden. In Belgien, das mit dem Programm der Föderalregierung zur Verbesserung der Digitalisierung des Justizsystems bis 2025 ehrgeizige Initiativen verfolgt, bestünden gleichwohl weiterhin erhebliche Herausforderungen, was die Effizienz des Justizsystems angeht. Gleiches gelte für Malta, Italien, Griechenland, Portugal und Zypern.

Das deutsche Justizsystem beurteilt die Kommission weiterhin als effizient. Das Thema Personalgewinnung bleibe für die Justiz angesichts der bevorstehenden Pensionierungswelle bei Richtern aber eine große Herausforderung. Der „Pakt für den Rechtsstaat“ komme zwar voran. Langfristig bedürfe es jedoch weiterer Bemühungen.

 

Dr. Christoph Rollberg