Zugang zum Recht in Berlin

Welche Bürger:innen klagen vor den Gerichten und welche – aus welchen Gründen – nicht?

Der effektive Zugang zu Recht und Justiz ist ein Menschenrecht und eine zentrale Gewährleistung des Rechtsstaats. Doch welche Bürger:innen klagen vor den Gerichten und welche – aus welchen Gründen – nicht? Gibt es Unterschiede aufgrund des sozialen Status oder einer (zugeschriebenen) ethnischen Herkunft? Können soziale und finanzielle Barrieren durch die bestehenden Systeme ausreichend abgefedert werden? Hierüber gibt es in Deutschland und auch im Land Berlin so gut wie keine verlässlichen Erkenntnisse. Das im Folgenden vorgestellte Forschungsprojekt hat vor diesem Hintergrund zum Ziel, den tatsächlichen Zugang zum Recht in Berlin genauer zu untersuchen.

Der Beitrag beruht in einzelnen Abschnitten auf Michael Wrase/Leonie Thies/Johanna Behr/Tim Stegemann, Gleicher Zugang zum Recht – (Menschen-)Rechtlicher Anspruch und Wirklichkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 31/2021, S. 48-54.

Unser AusgangspunktIm demokratischen Rechtsstaat wird die ‚Herrschaft des Rechts‘ (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) durch eine funktionsfähige unabhängige und unparteilich arbeitende Justiz gesichert. Die Gerichte müssen für die Bürger:innen effektiv zugänglich sein und ihre Entscheidungen in einem fairen Verfahren, diskriminierungsfrei sowie in angemessener Zeit treffen (vgl. Art. 6 Abs. 1 EMRK).1

Auch wenn die bundesdeutsche Justiz im europäischen Vergleich (und auch international) hohes Ansehen genießt,2 erstaunt es, wie wenig empirisch gesichertes Wissen über die Gerichte und ihre Anrufung durch Bürger:innen existiert.3 Die offiziellen Justizstatistiken weisen vor allem die Verfahrensarten, die betroffenen Rechtsgebiete, den Geschäftsanfall und die Erledigungszahlen an den verschiedenen Gerichtsarten aus.4 Wenig wissen wir dagegen über den tatsächlichen Zugang zum Recht. Welche (Rechts-)Streitigkeiten werden von welchen Personen und Akteuren vor Gericht gebracht – und welche nicht? Hat wirklich jede:r Bürger:in einen effektiven Zugang – oder gibt es ökonomische und strukturelle Barrieren bei der Inanspruchnahme der Rechtsinstitutionen? Bei diesen Fragen handelt es nicht nur um ein rechtssoziologisch interessantes Forschungsfeld.5 Es geht auch um die Verwirklichung einer zentralen grund- und menschenrechtlichen Garantie, die im internationalen, europäischen und nationalen Recht verankert ist.

In unserem Beitrag stellen wir zunächst die (menschen-)rechtlichen Gewährleistungen eines gleichen Zugangs zum Recht dar, worauf wir in einem Ausschnitt auf die bestehende internationale Forschung zum tatsächlichen Rechtszugang eingehen. Im zweiten Teil geben wir Einblicke in das methodische Vorgehen und den aktuellen Stand des Forschungsprojekts, das im Dezember 2020 mit einer explorativen Phase gestartet ist.

Recht auf effektiven Zugang zu Recht und Justiz Zwar findet sich der Terminus „Zugang zum Recht“, im Englischen: „Access to Justice“, ausdrücklich nur in einigen jüngeren Menschenrechtskatalogen wie Art. 13 der UN-Behindertenrechtskonvention und Art. 47 Satz 3 der Europäischen Grundrechtecharta. Er wird aber als zentrale Gewährleistung des internationalen Menschenrechtsschutzes und der Rechtsstaatlichkeit (rule of law) vorausgesetzt.6 Grund- und Menschenrechte sind nur dann verwirklicht, wenn sie im Falle ihrer Verletzung vor einer unabhängigen Rechtsinstanz effektiv eingeklagt und durchgesetzt werden können. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) enthält in Art. 13 eine entsprechende Garantie und statuiert in Art. 6 EMRK das Recht auf ein faires Verfahren, aus dem sich grundlegende Verfahrensrechte und -prinzipien ableiten lassen.7 Auf internationaler Ebene findet sich eine entsprechende Gewährleistung in Art. 14 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR).

Im Kern geht es um den Anspruch auf eine verfahrensgerechte, diskriminierungsfreie und materiell richtige Entscheidung.8 Eine entsprechende Garantie effektiven Rechtsschutzes enthält auf Ebene des nationalen Verfassungsrechts Art. 19 Abs. 4 GG bei Verletzung von subjektiven Rechten durch die „öffentliche Gewalt“. Für die Zivil- und Arbeitsgerichtsbarkeit hat das Bundesverfassungsgericht aus dem Rechtsstaatsprinzip eine entsprechende Garantie als „Justizgewährleistungsanspruch“ abgeleitet.9

 

Allerdings setzen die genannten Gewährleistungen zum größten Teil erst dann ein, wenn die Gerichte von Bürger:innen in Anspruch genommen, d.h. Anträge gestellt und damit Verfahren eingeleitet werden. Das Vorfeld einer formellen Befassung von Gerichten – also die tatsächlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Rechtsinstanzen – scheint damit aus dem Blickfeld der Gewährleistung zu fallen. Allerdings nicht vollständig. So hat das Bundesverfassungsgericht das Gebot der „weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes“, insbesondere durch Prozesskostenhilfe,10 entwickelt und dieses auch auf den außergerichtlichen Bereich der Beratungshilfe bei Inanspruchnahme von Anwält:innen erstreckt.11 Anhand des Gleichheitsartikels konsequent weitergedacht müsste dies bedeuten, dass auch (faktische) Benachteiligung im Sinne von Art. 3 Abs. 3 GG aufgrund des Geschlechts, rassistischer Zuschreibungen (der „Rasse“),12 der Herkunft oder des Glaubens etc. sowie ähnlicher diskriminierungsrelevanter Merkmale beim tatsächlichen Zugang zu Rechtsinstanzen zumindest abgefedert werden müssen.13

Damit erweitert sich die Perspektive von einem primär formalen, justizbezogenen Verständnis hin zu den tatsächlichen Rechtsbedarfen („legal needs“) und deren wirksamen Adressierung durch juristische Instanzen – die Responsivität des Rechtssystems.14 Denn Rechte, die auf dem Papier eingeräumt werden, sind nichts wert, wenn sie von den Rechteinhaber:innen nicht in der Realität, ggf. mithilfe der rechtsstaatlichen Instanzen, durchgesetzt werden können. Die OECD geht jedoch davon aus, dass besonders ärmere und marginalisierte gesellschaftliche Gruppen in besonderer Weise auf die Durchsetzung ihrer Rechte angewiesen sind, gleichzeitig aber gerade für diese Menschen regelmäßig erhebliche Barrieren beim Zugang zum Recht existieren.15 Diese menschenrechtlich und rechtsstaatlich begründete Perspektive auf Barrieren des Rechtszugangs stellt eine unmittelbare Verbindung zwischen normativen Anspruch und der empirischen Forschung zur Rechtsmobilisierung her.

Internationale Forschung zu Rechtsmobilisierung Unter welchen Umständen mobilisieren Bürger:innen ihre Rechte, wann rufen sie Rechtsinstanzen und Gerichte an – und wann nicht? Größere quantitative Erhebungen innerhalb der letzten Dekaden, die einigermaßen verallgemeinerungsfähige Aussagen ermöglichen, stammen von Genn (1999, England/Wales), van Velthofen und ter Voert (2004, Niederlande) sowie Currie (2009, Kanada).16 In den Studien wurden Bürger:innen in repräsentativen Zufallsstichproben danach gefragt, inwiefern sie in den vergangenen Jahren mit justiziablen (also grundsätzlich juristisch einklagbaren) Problemen konfrontiert waren und wie sie damit umgegangen sind, d.h. ob sie überhaupt tätig geworden sind, ob sie eine informelle Lösung gesucht, Rechtsrat eingeholt oder Gerichte in Anspruch genommen haben. In Bestätigung der bisherigen Forschung hat sich gezeigt, dass nur ein Bruchteil der grundsätzlich einklagbaren Ansprüche bis vor die Gerichte gelangt; die Zahlen schwanken je nach Problem und Rechtsbereich zwischen 3 und 13 Prozent.17 Das ist weder überraschend noch per se problematisch, denn selbst ein weit ausgebautes und personell hoch ausgestattetes Justizsystem wie in Deutschland wäre nicht in der Lage, jedes justiziable Problem zu bearbeiten. Insoweit werden auch in der rechtssoziologischen Forschung weniger klagefreudige und gerichtsorientierte Rechtskulturen mit Blick auf die Rechtsdurchsetzung grundsätzlich nicht schlechter bewertet.18 Hier setzte auch die seit den 1970er Jahren zunehmende Kritik an der justizbezogenen Rechtsbedarfsforschung an.19 Nach einem breiteren Verständnis wird der Zugang zum Recht auch dann effektiv gewährleistet, wenn Probleme außergerichtlich durch individuelle Aushandlungen, Inanspruchnahme von Rechtsberatung, rechtlicher Vertretung durch Anwält:innen oder Organisationen, Schiedsstellen etc. im Sinne der Rechteinhaber:innen befriedigend gelöst werden können.20 Demnach fällt einem effektiven Justiz- und Gerichtssystem ein „Schatten“ voraus, innerhalb dessen die Akteure – mit Blick auf eine bestimmte Gesetzeslage oder Praxis der Rechtsprechung – Rechtsprobleme ohne einen Gang vor Gericht behandeln und beilegen.21

Allerdings kann eine sozial besonders ungleiche Inanspruchnahme des formellen Justizsystems durchaus als Indiz für eine Verletzung des Rechts auf gleichen Rechtszugang gesehen werden. Erwiese sich die Justiz in den bekannten Worten Erhard Blankenburgs hauptsächlich als ein „Dienstleistungsbetrieb für die Geschäftswelt“22 und bliebe sie für benachteiligte Bevölkerungsgruppen weithin unzugänglich, würde sie ihrer rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Funktion nicht gerecht. So zeigt zum Beispiel die Studie von Currie für Kanada, dass gesellschaftlich benachteiligte Personengruppen wie Migrant:innen, indigene Personen, Menschen mit geringer Schulbildung und/oder geringem Einkommen im Unterschied zu privilegierteren Menschen mit höherer Wahrscheinlichkeit keine Mobilisierungsschritte gegen wahrgenommene oder tatsächliche Barrieren beim Zugang zu Unterstützungsangeboten ergreifen.23 Ähnliche Ergebnisse zeigten sich auch in der Genn-Studie für England und Wales, in der Ende der 1990er Jahre festgestellt wurde, dass Merkmale wie geringes Einkommen und niedrige Schul- und Hochschulbildung die Wahrscheinlichkeit für die Personen Maßnahmen gegen Probleme zu ergreifen maßgeblich verringert.24

Auch wenn es in den bestehenden Studien zum Zugang zum Recht keine tiefgehenden Analysen in Bezug auf die soziale Kategorie „race“ oder „Ethnizität“ gibt, weisen die Studien von Genn und Currie darauf hin, dass nicht-weiße Personen in den betreffenden Staaten seltener Recht in Anspruch nehmen bzw. es spezifische Barrieren gibt, ohne jedoch genau auf dahinter liegende Mechanismen oder Strukturen einzugehen.25 Hier erscheint es für die rechtsoziologische Forschung ratsam auch Perspektiven der Critical Race Theory (CRT) bei der Bewertung von empirischen Erkenntnissen zur Rechtsmobilisierung heranzuziehen. So definiert die CRT das Recht als weißen Raum.26 Diese Perspektive sollte in Studien zu Rechtsmobilisierung ernst genommen und die Inanspruchnahme von Recht durch von Rassismus betroffene Personen in Deutschland empirisch untersucht werden.

Gegenstand und Ziel der Berliner Studie Das Projekt „Zugang zum Recht in Berlin“ ist ein unabhängiges rechtssoziologisches Forschungsprojekt am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), das seit Dezember 2020 von der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung (SenJustVA) gefördert wird. Es soll darin empirisch untersucht werden, wie der tatsächliche Zugang für Bürger:innen zu Recht und Justiz in Berlin gewährleistet ist. Damit soll die bestehende Forschungslücke im Land Berlin zu einem Teil geschlossen werden. Das Projekt geht dabei den forschungsleitenden Fragen nach: Welche Zugänge zum Justizsystem gibt es? Welche Rechtsprobleme und von welchen Bürger:innen erreichen dieses – und welche nicht? Wo liegen wesentliche Barrieren für den Rechtzugang?

Darüber hinaus sollen Erkenntnisse darüber gewonnen werden, welche Art von Rechtsproblemen bereits im Vorfeld gelöst werden und welche ungelöst bleiben. Vor diesem Hintergrund sollen zugleich Empfehlungen erarbeitet werden, wie die Justizverwaltung den Zugang zum Recht in Berlin ggf. verbessern und vor allem Barrieren aufgrund des sozialen Status bzw. für migrantische bzw. migrantisierte27 Personen abbauen kann.

Neben dem räumlichen Fokus auf die Großstadt Berlin wurde die Untersuchung auf die Gebiete des Miet- und Verbraucherschutzrechtes beschränkt. Eine weitgehende Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes war bereits aufgrund des begrenzten Umfangs der vorhandenen Forschungsmittel unabdingbar. Das bundesdeutsche Justizsystem ist durch die verschiedenen Fachgerichtsbarkeiten (Zivil-, Straf-, Verwaltungs-, Arbeits-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit), die jeweils über unterschiedliche Zugangs- und Verfahrensvoraussetzungen verfügen, besonders ausdifferenziert. In einem ersten Workshop mit Expert:innen der SenJustVA wurden eine Konzentration auf die Zivilgerichtsbarkeit für sinnvoll erachtet, da diese allgemeine privatrechtliche Materien behandelt, die alle Bürger:innen in den unterschiedlichen Lebensbereichen betreffen. Das örtliche Amtsgericht ist dementsprechend das für die meisten Menschen unmittelbarste und ortsnächste Gericht, an dem viele alltägliche Rechtskonflikte verhandelt werden.

Mit Blick auf die behandelten Rechtsprobleme wurden die Bereiche des Wohnraummietrechts sowie des Verbraucherschutzrechts als besonders praxisrelevant und für viele Menschen – speziell in Berlin – wichtige Rechtsgebiete identifiziert. Beide Rechtsgebiete können der von Sinzheimer und Radbruch in der deutschen Rechtstheorie eingeführten Kategorie des „sozialen Rechts“ zugeordnet werden. Im Gegensatz zum bürgerlichen (Formal-)Recht werden damit solche Rechtsnormen bezeichnet, die auf bestehende soziale Ungleichheiten Bezug nehmen und diese (partiell) kompensieren, mit anderen Worten: ‚Schwächere schützen‘ und ihnen besondere Rechtspositionen einräumen.28 Insoweit stellt sich hier für den Rechtszugang die Frage, ob die Rechte der Mieter:innen und Verbraucher:innen von diesen auch praktisch effektiv durchgesetzt werden können.

Aufgrund der beschriebenen Relevanz für den effektiven Rechtszugang befasst sich das Projekt nicht nur mit dem formellen Justizsystem, d.h. den Zivilgerichten, sondern auch mit dessen Vorfeld, was insbesondere Angebote der marktförmigen Beratung und Vertretung durch Anwält:innen, aber auch verbandlichen Rechtsberatung umfasst. In Berlin existiert ein vielfältiges Angebot aus verbandlichen rechtlichen Beratungsstellen, die privat organisiert sind und teilweise staatlich gefördert werden. Dazu gehören etwa die Angebote der verschiedenen Mietervereine und Mietrechtsberatungsstellen, Antidiskriminierungsverände oder Organisationen, die zum Thema Diskriminierung Beratungen anbieten, die Verbraucherzentrale oder die Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr. Flankierend zu jenen Beratungsstellen, die sich auf ein bestimmtes Sach- oder Rechtsgebiet spezialisiert haben, bieten Migrant:innenorganisationen oder eine Organisation für vornehmlich Romn:ja ebenfalls rechtliche Beratungen zu unterschiedlichen Themenbereichen an. Diese Organisationen agieren dabei regelmäßig als Brücken zwischen migrantischen/migrantisierten Personen und gesellschaftlichen bzw. staatlichen Institutionen.29

Aufgrund der gerade in den genannten Rechtsbereichen wachsenden Bedeutung von sogenannten Legal-Tech Dienstleistern,30 wie z.B. „Flightright“, „wenigermiete.de“ oder „MyRight“, soll mit Blick auf deren mögliche Potenziale, aber auch Begrenzungen für den Rechtszugang ein weiterer Fokus gelegt werden.

Ende August 2021 endete die insgesamt acht Monate umfassende explorative Phase des Projekts. In dieser Phase ging es darum, Einsichten in das Forschungsfeld zu gewinnen, um erste (vorsichtige) Aussagen zum Gegenstand treffen zu können, relevante Forschungsschritte zu identifizieren und darauf das weitere Studiendesign festzulegen. Hierfür wurden Daten in insgesamt 41 problemzentrierten Expert:innen-Interviews mit Richter:innen, Anwält:innen sowie Mitarbeiter:innen in Rechtsantragsstellen, außergerichtlichen Anlauf- und Beratungsstellen, Antidiskriminierungsstellen, zwei Migrant:innen-Organisationen, Schlichtungsstellen sowie von Legal-Tech Dienstleistern gesammelt.31 Zudem wurden Daten der amtlichen Gerichtsstatistik sowie aus den Berliner Verfahrensdaten ausgewertet und mit den qualitativen Forschungsergebnissen kontrastiert. Der SenJustVA wurde auf der Grundlage einer Auswertung vom mehr als der Hälfte der geführten Interviews ein Zwischenbericht vorgelegt der Grundlage für die weiteren Forschungsschritte ist.

Erste Hinweise und ErkenntnisseAn dieser Stelle sollen einige erste Hinweise und Erkenntnisse aus der explorativen Phase unserer Studie vorgestellt werden. Diese müssen aber aufgrund des kleinen Samples an befragten Personen mit Vorsicht bewertet werden und dienen vor allem dazu, die nächsten Forschungsschritte zu bestimmen.

So ergeben sich aus der Befragung Hinweise, dass sozio-ökonomisch schwächere sowie migrantische bzw. migrantisierte Personen erheblich höhere Schwellen beim Rechtszugang zu überwinden haben als andere Menschen und damit einer höheren Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sind, ihre Rechte nicht adäquat geltend zu machen. Ebenso sind der Bildungsstand, Informiertheit und Rechtskenntnisse sowie sprachliche Hürden von erheblicher Bedeutung.

Benachteiligungen zeigen sich im Zivilprozess – speziell bei den im Rahmen der Studie betrachteten miet- und verbraucherrechtliche Probleme – aufgrund finanzieller und verfahrensbezogener Barrieren (Gerichtskosten, Kosten anwaltlicher Vertretung Darlegungs- und Beibringungsgrundsatz) sowie nicht hinlänglich kompensierter Asymmetrien der Parteien (z.B. Vermieter:innen als Mehrfachprozessierer vs. Mieter:innen als einmalig auftretende und ggf. nicht vertretene Parteien). Ein niedrigschwelliger Zugang zur Rechtsberatung und -vertretung wird von nahezu allen Befragten (Verbände, Anwält:innen und Richter:innen) als für den erfolgreichen Rechtszugang zentral angesehen. Hier ergeben sich aus den Interviews jedoch deutliche Hinweise auf Problemlagen.

Rechtsberatung, speziell auch für migrantische bzw. migrantisierte Personen, ist nicht flächendeckend vorhanden. Das System aus Beratungshilfe und Prozesskostenhilfe (PKH) wird in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung – auch mit Blick auf die praktische Handhabung durch die Berliner Justizbehörden/Gerichte – als teilweise nicht ausreichend angesehen, um bestehende Barrieren beim Rechtszugang für sozio-ökonomisch benachteiligte Personen effektiv abzubauen. In diesem Bereich ist weitere Forschung dringend erforderlich.

Die Digitalisierung spielt auch für den Rechtszugang eine immer wichtigere Rolle. Das zeigt sich besonders durch das Auftreten von sogenannten Legal-Tech-Dienstleistern, die ihre Leistungen über das Internet anbieten und z.B. Rechte von Mieter:innen und Verbraucher:innen gegen Erfolgsbeteiligung gerichtlich durchsetzen. Inwiefern durch diese Angebote Barrieren gerade für die hier in den Blick genommenen benachteiligten Personengruppen abgebaut werden (können), ist bislang kaum erforscht und bedarf genauerer Untersuchung.

Geplante weitere ForschungsschritteEines der Studienziele ist es, langfristige Handlungsempfehlungen für die untersuchten Bereiche zu formulieren, die auf die Förderung eines gleichmäßigeren Zugangs zur Justiz abzielen. Bei der Durchführung der Interviews wurden alle Interviewpartner:innen nach Handlungsempfehlungen gefragt. Die Auswertung der Vorschläge wird in der nächsten Phase des Projekts erfolgen.

Weiterhin verspricht eine Analyse von Zivilverfahrensdaten der Berliner Justiz für die Jahre 2015 bis 2020 tiefergehende Erkenntnisse. Nach Klärung des Verfahrens der anonymisierten Auswertung zu Forschungszwecken unter Wahrung des Datenschutzes sollen durch ein onomastisches Verfahren Namenseingaben nach migrantisch- und deutsch-gelesenen Namen aggregiert werden. Auf Grundlage jenes Verfahren sollen die verschiedenen Parameter der Zivilgerichtsstatistik auf Unterschiede in der Repräsentanz nach Gruppen analysiert werden. Bisherige Forschungsergebnisse und die qualitativen Erhebungen der Studie legen eine Unterrepräsentanz von migrantischen oder migrantisierten Personen vor den Zivilgerichten nahe. Dabei ist das Erkenntnisinteresse, ob sich durch den Namen signifikante Unterschiede, etwa zwischen Rechtsgebieten, der Art der Erledigung, für den Prozesserfolg, und bei der anwaltlichen Vertretung ergeben.

Zugleich kann anhand der Daten festgestellt werden, welche Bedeutung einer anwaltlichen Vertretung im amtsgerichtlichen Zivilverfahren generell zukommt. In welchen konkreten Verfahren und Positionen (Kläger:in – Beklagte:r) treten nicht anwaltlich vertretene Personen typischerweise auf? Welche Auswirkungen hat die Nichtvertretung auf den Prozessausgang? Aus den explorativen Befragungen der Expert:innen haben sich, wie gezeigt, Hinweise darauf ergeben, dass das bestehende System der Beratungs- und Prozesskostenhilfe in seiner praktischen Anwendung durch die Justizbehörden/Gerichte in Berlin Problemlagen aufweist, um den Rechtszugang von sozio-ökonomisch benachteiligten Personen tatsächlich zu verbessern. Hierzu wird die Auswertung der Befragungen von Rechtspfleger:innen in der zweiten Projektphase weitere Erkenntnisse bringen. Darüber hinaus wird in diesem Bereich über weitere Expert:inneninterviews und/oder Fokusgruppen nachzudenken sein, um genauere Kenntnisse zu gewinnen und Interventionsmöglichkeiten aufzuzeigen.

Es soll zudem untersucht werden, welche Chancen (und Risiken) Legal-Tech-Dienstleistungen, aber auch digitale Angebot der Justiz selbst für Bürger:innen beinhalten und welche Voraussetzungen für erfolgreiche digitale Angebote erfüllt sein müssten (z.B. Mehrsprachigkeit und Barrierefreiheit).

FazitDas vorgestellte Projekt versucht erstmals, in umfassenderer Weise den tatsächlichen Zugang von Bürger:innen zum Recht bzw. zum Justizsystem im Land Berlin bei Verbraucherschutz- und Mietrechtsproblemen zu analysieren. Normative Leitplanken sind das Menschenrecht auf effektiven Rechtszugang und der Justizgewährleistungsanspruch. Das Berliner Rechtssystem muss für die rechtlichen Belange betroffener Bürger:innen ausreichend zugänglich, d.h. responsiv sein; übermäßige Hürden für die Rechtsdurchsetzung müssen abgebaut werden. Die erste (explorative) Phase des Projekts hat konkrete Hinweise auf bestehende Barrieren aufgrund der sozioökonomischen Situation der Betroffenen sowie für migrantische bzw. migrantisierte Personen erbracht. Die weitere Forschung in diesem Bereich verspricht infolgedessen nicht nur rechtssoziologisch interessante Erkenntnisse, sondern kann Hinweise für eine bürgerfreundliche, sozial zugängliche und diversitätssensible Weiterentwicklung des Berliner Justizsystems geben.

PostskriptumWir möchten die Gelegenheit nutzen, den Gerichtspräsident:innen sowie den interviewten Richter:innen und Rechtspfleger:innen der beteiligten Amtsgerichte für ihr Engagement und die Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung an der Studie zu danken. Außerdem bedanken wir uns bei allen interviewten Anwält:innen, Vertreter:innen von Verbänden, Organisationen, Legal-Tech Unternehmen, Schlichtungs- und Antidiskriminierungsstellen sowie bei den weiteren Mitarbeiter:innen von Anlauf- und Beratungsstellen, die im Vorfeld des formellen Justizsystems tätig sind.

 

Michael Wrase, Johanna Behr, Philipp Günther, Lena Mobers, Tim Stegemann, Leonie Thies

 

 


1      Vgl. Beate Rudolf, Rechte haben – Recht bekommen. Das Menschenrecht auf Zugang zum Recht, Essay Nr. 15, Deutsches Institut für Menschenrechte, 2014.

2     Vgl. World Justice Project, The World Justice Project: Rule of Law Index 2020, Washington, D.C. 2020, S. 6-7.

    Vgl. Alexander Graser, Zugang zum Recht: Kein Thema für die deutsche (Sozial-)Rechtswissenschaft?, in: Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht 1/2020, S. 15.

4      Siehe Bundesamt für Justiz, Statistiken der Rechtspflege, Geschäftsbelastungen (Gerichte und Staatsanwaltschaften), https://www.bundesjustizamt.de/DE/Themen/Buergerdienste/Justizstatistik/Justizstatistik_node.html (letzter Zugriff 25.8.2021).

5     Vgl. Susanne Baer, Rechtssoziologie, Baden-Baden, 4. Aufl. 2021, § 7; Hubert Rottleuthner, Einführung in die Rechtssoziologie, Darmstadt 1987, S. 78 ff.

6      Vgl. Valesca Lima/Miriam Gomez, Access to Justice: Promoting the Legal System as a Human Right, in: W. Leal Filho et al. (eds.), Peace, Justice and Strong Institutions, Encyclopedia of the UN Sustainable Development Goals, A 1-10, S. 2; Rudolf (Fn. 1), S. 2 f., jeweils mit weiteren Nachweisen.

7      Vgl. Janneke H. Gerards/Lize R. Glas, Access to justice in the European Convention Human Rights system, in: Netherlands Quaterly of Human Rights 35/1 (2017), S. 11-30.

8      Siehe Christiane Schmalz, Rechtliches Gehör – Garant für den Zugang zum Recht?, in: Kritische 49/3 (2016), S. 318 f. mit weiteren Nachweisen.

9      Vgl. BVerfGE 85, 337 (345); 107, 395 (406 f.); st. Rspr.; zusammenfassend Hans D. Jarass, in ders./Bodo Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, München, 16. Aufl. 2020, Art. 20 Rn. 128 ff.

10     Grundlage ist Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG; vgl. BVerfGE 56, 139 (144); 81, 347 (356); 117, 163 (187); st. Rspr.

11     Grundlegend BVerfGE 122, 39 (50).

12     Zur Problematik des Rassebegriffs im (deutschen) Recht ausführlich Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus. Genealogie einer ambivalenten rechtlichen Kategorie, Berlin 2021.

13     Zu den speziellen Diskriminierungsverboten siehe etwa Angelika Nußberger, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, München, 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 238a-252.

14     Zum Konzept der Responsivität siehe OECD (Hrsg.), Equal Access to Justice. OECD Roundtable Background Notes, Paris 2015; OECD/Open Society Foundations (Hrsg.), Understanding Effective Access to Justice, 2016.

15     Vgl. OECD (Fn. 14).

16      Hazel Genn, Paths to Justice: What People Do and Think About Going to Law, Oxford/Portland Oregon, 1999; Ben C. J. van Velthoven/Marijke ter Voert, Paths to Justice in the Netherlands. Looking for Signs of Social Exclusion, Leiden 2004; Ab Currie, The Legal Problems of Everyday Life, in: Rebekka Sandefur (Hrsg.), Access to Justice, Sociology of Crime, Law and Deviance (Vol. 12), Bingley, S. 1-41.

17      Das steht in Übereinstimmung mit den älteren Studien, vgl. Cotterrell ; Roger Cotterrell, The Sociology of Law, 2. Aufl. London u.a.1992, S. 254; Erhard Blankenburg. Mobilisierung des Rechts, Berlin u.a. 1995, S. 30 ff., 50.

18      Vgl. Erhard Blankenburg, Europäische Justizindikatoren: Budgets der Justiz, Richter und Rechtsanwälte, in: Michelle Cottier/Josef Estermann/Michael Wrase (Hrsg.), Wie wirkt Recht?, Baden-Baden 2010, S. 70 ff.

19     Vgl. Currie (Fn. 16), S. 7.

20 Vgl. Rudolf (Fn. 1), S. 11 f.; OECD (Fn. 14), S. 12 ff.

21      Grundlegend Robert Mnookin/Lewis Kornhauser, Bargaining in the Shadow of the Law, in: The Yale Law Journal 88/5 (1979), S. 950-97; vgl. Calvin Morrill/Mayra Feddersen/Stephen Rushin, Law, Mobilzation of, in: International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences Bd. 13, 2. Aufl., S. 595 f.

22      Zitiert nach Rottleuthner (Fn. 5), S. 116.

23      Currie (Fn. 16), S. 13.

24      Genn (Fn. 16), S. 69.

25      Currie (Fn. 16) S. 243; Genn (Fn. 16), S. 13.

26      Vgl. Iyiola Solanke, Where are the Black Lawyers in Germany?, in: Maureen Maisha Eggers/Grada Kilomba/Peggy Piesche/Susan Arndt (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2005, S. 179-188; Doris Liebscher/Juana Remus/Daniel Bartel, Rassismus vor Gericht: Weiße Norm und Schwarzes Wissen im rechtlichen Raum, in: Kritische Justiz 47/2 (2014), S. 137, 147, 152.

27     Wir sprechen von „migrantisierten“ Personen, da es sich oft um eine (Fremd-)Kategorisierung oder Zuschreibung für Personen handelt.

28     Ausf. Ulrike A. C. Müller, Protest und Rechtsstreit, Baden-Baden 2021, S. 40.

29     BMFSFJ (Hrsg.), Migrantinnenorganisationen in Deutschland, 2014, S. 29.

30     Das Phänomen der Legal Tech-Dienstleistungen hat sich seit Anfang der 2010er Jahre in Deutschland zunehmend durchgesetzt und nimmt insbesondere im Verbraucherrecht mittlerweile eine wichtige Rolle ein; vgl. Nico Kuhlmann, Legal Tech – Zugang zum Recht im Zeitalter der Digitalisierung, 2018, S. 87 ff.

31     Die Interviews fanden aufgrund der Pandemiesituation online mithilfe des Video-Konferenzprogramms Zoom statt und wurden auf Grundlage eines semi-strukturierten Leitfaden jeweils von zwei Interviewer:innen des Forschungsteams durchgeführt.