Wie familienfreundlich ist die Berliner Justiz?

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gewinnt immer mehr an Bedeutung.

Wer sich für eine Tätigkeit als Richter:in entscheidet, entscheidet sich damit oft gegen das hohe Einkommen in der freien Wirtschaft zugunsten einer sinnstiftenden, sicheren und angesehenen Tätigkeit, die dennoch herausfordert und attraktive Aufstiegsmöglichkeiten bietet – ohne Mandantenakquise, ohne Dresscode, ohne Facetime und ohne Abhängigkeiten. Auch der Wunsch nach Selbstbestimmung und Flexibilität spielt dabei häufig eine zentrale Rolle – vor allem in einer Zeit, in der die Vereinbarkeit von Familie und Beruf immer mehr an Bedeutung gewinnt. Dies ist nicht nur für die Familien selbst entscheidend, sondern auch für den Staat, der angesichts des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels ein fundamentales Interesse an kinderreichen Familien mit berufstätigen Eltern hat. Doch wie familienfreundlich ist die Berliner Justiz wirklich? Und wie gut gelingt es ihr, den Anspruch auf ein modernes, flexibles Arbeitsumfeld zu erfüllen?

Der Anteil vonFrauen in Führungspositionen: Ein guter Anfang

Es ist positiv, dass die Berliner Justiz mit 44,3 Prozent[1] unter den Bundesländern den höchsten Anteil an Frauen in Führungspositionen aufweist. Dies ist ein erfreuliches Signal und der Fortschritt sollte wohlwollend registriert werden. Dennoch bleibt der Wert noch hinter dem allgemeinen Frauenanteil in der Berliner Justiz von rund 55 Prozent[2] zurück. Schon hieran zeigt sich, dass es nach wie vor Potenziale gibt, die nicht ausgeschöpft werden – sowohl bei der Förderung von Frauen als Führungskräften als auch bei der Schaffung von Arbeitsmodellen, die Frauen und Familien besser unterstützen.

Keine Teilzeit unter 50 Prozent? Doch!

Teilzeitarbeit ist unter Richter:innen weit verbreitet, doch viele Kolleg:innen gehen irrtümlich davon aus, dass Teilzeiten unter 50 Prozent nicht genehmigungsfähig sind und kehren deshalb nach der Geburt ihres Kindes erst spät wieder zurück. Der Dienstherr sollte hier besser aufklären und eine kooperativere Haltung einnehmen.

Tatsächlich muss sowohl die sog. voraussetzungslose (§ 5 Abs. 1 RiG Bln) als auch die sog. familienbedingte Teilzeitbeschäftigung (§ 4 Abs. 1 RiG Bln) mindestens 50 Prozent betragen (etwas missverständlich heißt es hierzu im Gesetzestext, dass „Teilzeitbeschäftigung bis zur Hälfte des regelmäßigen Dienstes“ zu bewilligen sei). Anders verhält es sich aber in der Elternzeit: Laut § 7 der für Bundesbeamt:innen geltenden Mutterschutz- und Elternzeitverordnung (MuSchEltZV) muss der Dienstherr in der (pro Kind insgesamt bis zu drei Jahre andauernden) Elternzeit auch einen auf eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von bis zu 32 Stunden gerichteten Teilzeitantrag genehmigen, wenn keine zwingenden dienstlichen Belange entgegenstehen (sog. Teilzeitbeschäftigung während der Elternzeit). Diese Regelung dürfte auch auf Berliner Landesrichter:innen anzuwenden sein (vgl. § 10 S. 1 RiG Bln iVm § 74 Abs. 3 LBG Bln; § 10 MuSchEltZV, der für Bundesrichter:innen eine Mindestteilzeit von 50 Prozent vorsieht, dürfte dagegen aufgrund des ausdrücklichen Verweises auf die für Beamt:innen geltenden Vorschriften keine Anwendung finden). Uns sind auch vom Dienstherrn genehmigte Teilzeitbeschäftigungen in Elternzeit unter 50 Prozent bekannt – aber sie sind selten. Das gegen die Teilzeitmodelle oft ins Feld geführte Argument, es werde eine volle Planstelle blockiert, steht nicht nur im Kontrast zu einer modernen Personal- und Haushaltsplanung, sondern kollidiert auch mit dem Anspruch der Berliner Justiz, ein moderner Arbeitgeber sein zu wollen. Hinzu kommt, dass deutlich kleinere Rechtsprechungsanteile gerade bei Kolleg:innen mit Verwaltungsaufgaben oder mit Aufteilungen auf mehrere Kammern durchaus üblich sind. Auch am Landgericht Berlin I wären Teilzeitpensen unter 70 Prozent durchaus denkbar – etwa durch den ausschließlichen Einsatz in einer Strafvollstreckungskammer statt in einer großen Strafkammer.

Teilzeitarbeit – mehr Flexibilität, aber auch mehr Belastung

Allerdings arbeiten Richter:innen in Teilzeit oft mehr, als das gewählte Pensum vermuten lässt. Hierauf sollte der Dienstherr stärker Rücksicht nehmen und sich um eine effizientere Personalgestaltung bemühen. So werden Teilzeitkolleg:innen in der Praxis nicht selten auf Dezernate gesetzt, die über dem gewählten Pensum liegen und erst durch einen Eingangsstopp über mehrere Monate auf den gewünschten Umfang abgeschmolzen werden. Dies führt gerade zu Beginn des Wiedereinstiegs oft zu einer (unbezahlten) Überlastung. Hinzu kommt häufig ein überproportionaler Abstimmungsaufwand durch eine auch bei Teilzeitkräften nicht seltene Aufteilung auf mehrere Kammern. Unberücksichtigt bei der Berechnung des Pensums bleibt des Weiteren regelmäßig die Mehrarbeit durch die Mitberatung von Beschlussentwürfen der Kolleg:innen mit höheren Pensen, durch die Teilnahme an Kammersitzungen und anderen Besprechungen und durch nicht pensengerechte Vertretungen. Die bei letzteren oft übliche Beschränkung auf „das Nötigste“ führt bei den Vollzeitrichter:innen zu voll gelaufenen Dezernaten und bei den Teilzeitrichter:innen zu einem schlechten Gewissen, denn wer hinterlässt schon gerne zwei Wochen unbearbeitete Post?

Die Frage der Erreichbarkeit – Zwischen Flexibilität und Pflicht

Der erbarmungsloseste Gegner des sorgfältig austarierten Familiensystems aber ist nicht die anhaltend hohe Belastung, sondern vielmehr die erst am Nachmittag eintrudelnde wirklich dringende Eilsache. Schlüssel und Mantel sind schon in der Hand, das Kitakind wartet und plötzlich klingelt das Telefon. Was ist nun zu tun? Die auch bei Vollzeitkräften nicht abschließend geklärte Frage nach der Pflicht zur Erreichbarkeit macht das Leben von Teilzeitkräften unsicher. Bislang galt meist: Wer nicht im Haus war, wurde als vorübergehend verhindert betrachtet, so dass die Vertreterkette griff. In Zeiten der E-Akte und zunehmenden Home-Office-Zeiten einerseits und Teilzeitmodellen andererseits stellt sich jedoch die Frage, ob diese Praxis noch interessengerecht ist. Muss die 50-Prozent-Teilzeitkraft, die um 15:00 Uhr ihr Kind aus der Kita abholen muss, das Telefon ab 14:30 Uhr meiden? Bis wann müssen die Aufgabeneingänge im Aktenbock der E-Akte gecheckt werden? Eine Lösung könnten (sondergebietsweite) Tagesdienste bieten, die in Abhängigkeit vom Arbeitskraftanteil der jeweiligen Richter:innen besetzt werden – auch am Landgericht. Dies könnte die Planbarkeit für alle Beteiligten (einschließlich der Geschäftsstellen) erhöhen und eine faire Lastenverteilung gewährleisten.

Keine Zeit für kranke Kinder

Weit an der Lebensrealität von Eltern vorbei geht die geringe Zahl an bezahlten Kinderkranktagen. Aktuell stehen Richter:innen in Berlin davon jährlich nur vier Tage pro Kind zur Verfügung (bei den nach konservativen Angaben für Kinder üblichen vier bis acht Infekten im Jahr ein Tropfen auf den heißen Stein). Die bereits ab dem ersten Krankheitstag bestehende Attestpflicht sorgt für zusätzlichen Stress. Da es im Gerichtsbetrieb mangels Bereitschaftsdiensten regelmäßig sowieso keine „echten“ Vertretungen (mit vertiefter Bearbeitung in der Sache) gibt, führt die Krankmeldung in der Praxis lediglich dazu, dass keine Eilsachen bearbeitet werden müssen. Nicht selten sitzt man deshalb irgendwo zuhause mit dem jammernden, fiebrigen Kind und versucht, irgendwie das Dezernat zwischen die Fiebersaftgaben zu schieben. Entlastung könnten hier weitere Kinderkranktage sowie eine weniger strikte Attestpflicht schaffen. Auch die Einführung eines funktionstüchtigen Bereitschaftsdienstes für Krankheit und Urlaub wären eine Überlegung wert.

Stillzeiten: Ein unterschätzter Anspruch

Vermutlich den meisten Richterinnen unbekannt ist ihr Anspruch auf Stillzeiten im ersten Lebensjahr des Kindes. Der Dienstherr ist verpflichtet, stillende Frauen in dieser Zeit auf ihr Verlangen täglich für insgesamt mindestens eine Stunde vom Dienst freizustellen – ohne Nacharbeit und ohne Besoldungskürzung (§§ 7 Abs. 2, 23 MuSchutzG iVm § 7 MuschVO Bln iVm § 10 S. 1 RiGBln). Aus einer 40-Stunden-Woche wird so eine 35-Stunden-Woche, aus 1,0 AKA werden 0,875 AKA. Liebe Kolleginnen: Trauen Sie sich! Diese Freistellung soll Ihnen den Wiedereinstieg erleichtern.

Diskriminierungspotential bei der Umstellung auf Teilzeit

Ein oft übersehener Aspekt ist schließlich die Diskriminierung, die regelmäßig mit der Umstellung von Vollzeit auf Teilzeit hinsichtlich des in Vollzeit erworbenen Resturlaubs einhergeht. Denn wer vor der Elternzeit seinen Urlaub nicht genommen hat und in Teilzeit zurückkehrt, erhält für den Resturlaub nur noch Teilzeitbezüge – eine wegen der damit verbundenen Diskriminierung von Teilzeitkräften europarechtswidrige Praxis (EuGH, Urt. v. 22.04.2010 - C-486/08 - NZA 2010, 557, vgl. auch VG Magdeburg Urt. v. 07.02.2022 – 5 A 357/20 MD, BeckRS 2022, 8623), über die wir bereits im VOTUM berichtet haben (VOTUM 1/2024, S. 17 f.). Zumindest im Falle eines Beschäftigungsverbotes und einer sich daran anschließenden Elternzeit mit Rückkehr in Teilzeit hat auch die Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung diese durch die Frauenvertreterin des Landgerichts Berlin beanstandete Praxis als ungerechtfertigte (un)mittelbare Diskriminierung von Frauen und somit als Verstoß gegen § 2 Abs. 2 des Landesgleichstellungsgesetzes qualifiziert. Dennoch zögert die Finanzverwaltung offenbar noch, ihre Praxis zu ändern. Betroffene Kolleg:innen sollten ihren in Vollzeit erworbenen Resturlaub möglichst noch vor Antritt der Elternzeit nehmen oder formal zunächst in Vollzeit zurückkehren und in dieser Zeit ihren Resturlaub nehmen. Wer beides nicht getan hat, sollte nach seiner Rückkehr einen Antrag auf ergänzende Vergütung stellen und sich ggf. an die jeweils zuständige Frauenvertreterin wenden, um den voraussichtlich zurückweisenden Bescheid beanstanden zu lassen.

Fazit: Ungenutztes Potential

Im Arbeitsalltag wird die Berliner Justiz ihrem proklamierten hohen Anspruch an Familienfreundlichkeit nicht immer gerecht – auch dann nicht, wenn man mehr Flexibilität durch die Einführung der E-Akte, weit verbreitete Teilzeitbeschäftigung und die vergleichsweise großzügigen Familienzuschläge positiv verbucht. Sie verschenkt damit Potential. Angesichts der demografischen Herausforderungen darf sich die Berliner Justiz nicht auf ihrem nur teilweise gerechtfertigten Image als familienfreundlicher Arbeitgeber ausruhen. Sie muss sich vielmehr zur Spitzenreiterin bei der Schaffung eines modernen, frauen- und familienfreundlichen Arbeitsumfeldes entwickeln, um auch in Zukunft kluge Kolleg:innen für sich zu gewinnen, die das Gesamtpaket zu schätzen wissen.

Anna Radke

 

 

 


[1] https://www.daten.bmfsfj.de/daten/daten/anteil-von-frauen-und-maennern-in-fuehrungspositionen-in-der-justiz-134430

[2]https://www.lto.de/recht/justiz/j/frauen-in-der-justiz-berlin-55-prozent