Standards für Proberichterinnen und Proberichter

Wir stellen die Ideen für die Personalentwicklung vor.

 

Mit großer Sorge blickt die Richterschaft auf die Personalentwicklung der nächsten Jahre.Bis 2030 werden von derzeit ca. 1.800 Richter:innen und Staatsanwält:innen des Landes Berlin ca. 550 voraussichtlich in den Ruhestand gehen. Bislang beabsichtigt die Senatsverwaltung für Justiz nach unserer Kenntnis nicht, den Kolleg:innen über ihr 67. Lebensjahr hinaus zu ermöglichen, ihre Tätigkeit fortzusetzen. Zudem haben in den letzten Jahren jährlich ca. 10 Kolleg:innen die Berliner Justiz innerhalb der Probezeit wieder verlassen.

Das Kammergericht und die Präsident:innen der ordentlichen Gerichtsbarkeit haben sich vor diesem Hintergrund im Rahmen eines Strategietages im November 2023 mit der Betreuung von Proberichter:innen in ihrem ersten Jahr ab Dienstantritt beschäftigt und sich im Nachgang auf einheitliche Standards hierzu geeinigt. Hierzu haben wir die Vizepräsidentin des Kammergerichts Dr. Svenja Schröder-Lomb befragt, die diese neue Herangehensweise initiiert hat und verantwortet.

Warum hat das Kammergericht die Vereinbarung neuer Proberichterstandards für nötig gehalten?

Die Nachbesetzung der vielen in der Justiz in den kommenden Jahren freiwerdenden Stellen stellt bereits aus demographischen Gründen eine Herausforderung dar. Angesichts der zahlreichen Optionen, die der Arbeitsmarkt derzeit den Absolvent*innen gerade auch in Berlin bietet, ist es – anders als früher – nicht nur erforderlich, aktive Nachwuchsgewinnung zu betreiben, sondern wir müssen auch diejenigen, die bei uns ankommen, von der Justiz überzeugen und an uns binden.

Die hergebrachte Vorstellung von dem Einstieg in die Probezeit sah den Sprung ins kalte Wasser vor, der nur mit einem weit überobligatorischen Zeitaufwand in den ersten Wochen und Monaten und dem Goodwill der Kollegenschaft überhaupt zu bewältigen war. In Zeiten des Arbeitnehmermarktes, in denen der Berufseinstieg außerhalb der Justiz regelmäßig mit einem umfassenden Onboarding- bzw. Traineeprozess erleichtert wird, ist den jungen Richter*innen eine entsprechende Erwartungshaltung des Dienstherrn schwer zu vermitteln. Ein Personalentwicklungskonzept für Proberichter*innen mit zahlreichen Empfehlungen zur Umsetzung der Probezeit gibt es in Berlin schon seit einiger Zeit. Für die ordentliche Gerichtsbarkeit wollen wir eine einheitliche Ausgestaltung dieses Konzepts im Sinne der Proberichter*innen sicherstellen.

Seit Jahrzehnten gründet die Einarbeitung der Berufsanfänger*innen in der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Berlin auf einer Art justiziellen Generationenvertrag, der auf der hohen Kollegialität in unseren Gerichten beruht: Die erfahrenen Kolleg*innen, zu denen auch schon Proberichter*innen zählen können, unterstützen die neuen Kolleg*innen und helfen ihnen über die erste besonders herausfordernde Zeit. Mit unseren neuen Standards wollen wir das Ganze strukturieren, so dass es für den einzelnen nicht (mehr) vom Zufall abhängt, ob hilfsbereite Kolleg*innen zur Verfügung stehen, sondern eine Verlässlichkeit und mehr Zeit für jeden einzelnen etabliert wird. Das verschafft gerade in der Anfangszeit Sicherheit.

Was sind die wesentlichen Punkte der neuen Proberichterstandards?

Die neu bei uns ankommenden Proberichter*innen sollen unabhängig davon, an welchem Gericht sie starten, Bedingungen antreffen, die ihnen den allerersten Einstieg erleichtern. Ziel ist es, die Proberichter*innen auf strukturierte Weise an die mit einem vollen richterlichen Dezernat verbundene Herausforderung in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht heranzuführen. Die vereinbarten Standards betreffen dabei verschiedene Bereiche: die Vorbereitung und Gestaltung des Dienstantritts – hier sind vor allem Gerichtsleitung und Präsidien gefragt; die fachliche Einarbeitung und Betreuung, insbesondere in den ersten Wochen; das Angebot sowie die zeitliche Gestaltung von Fortbildungen und Schulungen – hier bringt sich auch das Kammergericht stärker ein, um sicherzustellen, dass die notwendigen IT Schulungen und darüber hinaus auch Grundlagenschulungen gleich zu Beginn stattfinden; das Etablieren von Feedbackgesprächen; und zuletzt die in den ersten drei Monaten pensenmäßig reduzierte Überweisung an das Gericht, sprich die Übertragung eines quantitativ eingeschränkten Dezernats.

Wie sollen diese Standards evaluiert werden?

Viele der Standards entsprechen bereits dem, was in einzelnen Gerichten seit langer Zeit praktiziert wird und sich aus Sicht (ehemaliger) Proberichter*innen und auch der Stammrichterschaft bewährt hat. Insoweit geht es darum, diese bereits erfolgreich erprobten Maßnahmen auch in anderen Gerichten zu etablieren. Die Evaluation erfolgt hier laufend über Gespräche mit den Proberichter*innen.

Bezüglich der Pensenreduktion, die es bislang nicht gab, haben wir uns zunächst für einen zweijährigen Pilotzeitraum entschieden. Hier stellen sich im Rahmen der Umsetzung verschiedenste technische Fragen – vor allem, aber nicht nur, an Gerichten mit Kollegialspruchkörpern. Die Präsidien der Gerichte sind da sehr unterschiedliche Wege gegangen. Bei einer Evaluation nach 2 Jahren werden wir uns genau anschauen müssen, ob es tatsächlich zu einer fühlbaren Entlastung in den ersten Monaten gekommen ist und wie sich dies auf die Stammrichterschaft ausgewirkt hat. In die Evaluation werden sowohl statistische Erkenntnisse als auch Erfahrungsberichte Betroffener einfließen.

Warum gilt die reduzierte Zuweisung nur für die ordentliche Gerichtsbarkeit?

Nach unserer Erfahrung in der Begleitung junger Kolleg*innen in der Probezeit bergen gerade die Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit in der ersten Station eine besonders große Herausforderung. Hier wird häufig von Beginn an eine Einzelrichtertätigkeit ausgeübt und ein vorterminiertes Dezernat übernommen, so dass der Umstand, plötzlich und erstmals ganz allein mit der hohen richterlichen Verantwortung ausgestattet zu sein, den/die Einzelne mit voller Wucht trifft. Demgegenüber ist bei der Staatsanwaltschaft der Einstieg schon durch die Abteilungseinbindung und die Gegenzeichnung sanfter gestaltet. Bei dem Verwaltungsgericht ist die Einzelrichtertätigkeit durch verwaltungsprozessrechtliche Vorgaben stark eingeschränkt. Dort erwartet die neuen Kolleg*innen zudem typischerweise eine enge Kammereinbindung und kein vorterminiertes Dezernat. Letzteres trifft auch auf das Sozialgericht zu. Zudem können wir als Kammergericht natürlich nicht in die anderen Bereiche hineinregieren. Wir haben die Strafverfolgungsbehörden und die Fachgerichte aber frühzeitig über unsere Pläne informiert und sind dort auf Verständnis gestoßen.

Wie nehmen Sie die Reaktionen auf die vereinbarten Proberichterstandards in der Kollegenschaft und in der Senatsverwaltung wahr?

Die Reaktionen, die uns erreichen, sind durchaus unterschiedlich. Unser Eindruck ist, dass der weit überwiegende Teil der Richterschaft es für unerlässlich hält, sich um Nachwuchsgewinnung und -bindung zu bemühen – immerhin haben alle ein immenses gemeinsames Interesse daran, einen Personalkörper aufzubauen, der die vielen zu erwartenden Altersabgänge in den kommenden Jahren mit auffängt. Die Standards mit Blick auf die Betreuung und Einarbeitung stoßen nach unserer Wahrnehmung auf viel Akzeptanz. Die Pensenreduktion wird hingegen durchaus kontrovers betrachtet. Das ist auch nachvollziehbar, da hier eine Mehrbelastung der Stammrichterschaft unausweichlich erscheint und für viele schwer hinnehmbar ist.

Können Sie verstehen, dass bei den Kolleg:innen teils Sorge vor Überlastung besteht?

Die Sorge vor Überlastung durch die Pensenreduktion kann ich natürlich verstehen. Die Kolleg*innen in den Häusern sehen sich ohnehin einer erheblichen Belastung ausgesetzt, die für viele durch die Einarbeitung in neue digitale Formate noch verstärkt wird. Viele empfinden es auch als ungerecht, dass sie selbst in ihrem Probedienst nicht entsprechend entlastet wurden und nun die Entlastung der Jüngeren tragen sollen.

Mit der Frage, ob es angesichts dessen zumutbar ist, eine Entlastung von Berufsanfänger*innen in den Blick zu nehmen, haben wir uns auf unserem Strategietag intensiv beschäftigt. Auch unter den Präsident*innen gab es hier unterschiedliche Ansätze. Flankiert werden soll das Ganze auch dadurch, dass wir das Defizit, das durch die reduzierte Zuweisung in den einzelnen Gerichten entsteht, im Blick behalten und uns bemühen werden, es über das Jahr auszugleichen.

Welche Pläne gibt es, um für mehr Verständnis insbesondere hinsichtlich der reduzierten Zuweisung zu werben?

Um für Verständnis zu werben, haben wir den Gerichten angeboten, im Rahmen von Richterversammlungen die Einzelheiten der Pläne vor Ort vorzustellen und auf Fragen und Kritik unmittelbar einzugehen. So sind wir auch in einigen Gerichten in die Diskussion gegangen. Besonders wichtig war und ist es uns dabei, auf folgende drei Punkte hinzuweisen:

Erstens hat die ganze Richterschaft ein Interesse daran, die Nachwuchskräfte gut auf die Last vorzubereiten, die sie im Zusammenhang mit den zahlreichen Altersabgängen in den kommenden Jahren werden tragen müssen. Der Start mit einem reduzierten Pensum bringt zum Ausdruck, dass es keine Erwartung gibt, ein volles richterliches Dezernat ohne Erfahrung und Routine von Anfang an in vertretbarer Zeit zu bewältigen. Dass dieser Umstand erkannt und auch berücksichtigt wird, bringt eine Wertschätzung zum Ausdruck, die die jungen Richter*innen, die sich bewusst unter zahlreichen attraktiven Möglichkeiten für die Justiz entschieden haben, mit Recht erwarten. Ich kann sehr gut verstehen, dass alle, die unter anderen Bedingungen ihren Dienst als Richter*in in Berlin angetreten sind, zu denen auch ich gehöre, sich eine solche Wertschätzung gewünscht hätten. Das sollte aber kein Grund sein, sie anderen vorzuenthalten. Dass die Zuteilung eines reduzierten Pensums ein taugliches Mittel ist, haben wir uns auch nicht selbst ausgedacht. In anderen Bundesländern wie beispielsweise Niedersachsen ist dies bereits geübte und bewährte Praxis.

Zweitens möchte ich zur Vermeidung von Missverständnissen noch einmal klarstellen, dass die Reduktion des Pensums nur diejenigen Proberichter*innen betrifft, die in ihrer ersten Station dem Gericht zugewiesen sind, und dass sie nur drei Monate andauert. Die Gesamtmehrbelastung hält sich hierdurch zahlenmäßig noch in Grenzen.

Drittens waren wir bei unseren Überlegungen bestrebt, den Aufwand der Proberichter*innenbetreuung und -entlastung auf möglichst viele Schultern möglichst gleichmäßig zu verteilen. Gerichte, die besonders oft von der Pensenreduktion betroffen sind, sollen im Gegenzug bevorzugt werden, wenn zusätzliche Kräfte verteilt werden können.

Wie können Mentor:innen motiviert und entlastet werden?

Auch hier erscheint uns eine möglichst gerechte Verteilung auf möglichst vielen Schultern besonders wichtig. Schon jetzt engagiert sich eine Vielzahl von Kolleg*innen als Mentor*in oder auch einfach als Ansprechperson für Proberichter*innen. Nicht selten bezeichnen Proberichter*innen genau diese kollegiale Unterstützung als einen Grund dafür, dass sie in herausfordernden Phasen der Justiz nicht den Rücken gekehrt haben. Durch die vereinbarten Standards sollen auch an Gerichten, in denen dies bislang nicht üblich ist, Kolleg*innen motiviert werden, sich als Mentor*in zur Verfügung zu stellen. Durch regelmäßige Einladungen zu Erfahrungsaustauschen und Schulungen wollen wir das Engagement der Mentor*innen sichtbarer machen, ihnen Wertschätzung vermitteln, sie untereinander vernetzen und ihnen Hilfestellungen an die Hand geben.

Beabsichtigt das Kammergericht, sich in irgendeiner Form an der geplanten Entlastung der neuen Proberichter:innen zu beteiligen?

Das Kammergericht kümmert sich natürlich einerseits um die Koordinierung und die möglichst gerechte Verteilung der vorhandenen Kräfte. Zudem wird der allererste Einstieg, nämlich die erste Dienstwoche, in unserer Verantwortung liegen. Durch monatlich getaktete IT-Schulungen wird sichergestellt, dass die Proberichter*innen bereits mit den notwendigen Grundlagenkenntnissen in den Gerichten ankommen. Ab dem nächsten Jahr sollen innerhalb dieser ersten Woche zudem Grundlagenschulungen angeboten werden, die den Proberichter*innen etwa bei der Organisation der Dezernatsarbeit oder der Verhandlungsleitung helfen.

Gibt es seitens des Kammergerichts noch weitere Ideen und Initiativen zur Nachwuchsgewinnung?

Bereits seit einigen Jahren beschäftigen wir uns gemeinsam mit der Senatsverwaltung und der Generalstaatsanwaltschaft intensiv mit dem Thema Nachwuchsgewinnung und haben eine Reihe von Ideen umgesetzt. Beispielhaft ist der halbjährlich stattfindende „Karriereabend Justiz“, eine virtuelle Informationsveranstaltung über Einstellungsverfahren und Probedienst zu nennen, zu dem sich Ende November zuletzt wieder knapp 100 potentielle Bewerber*innen zugeschaltet haben. Daneben veranstalten wir Vortragsabende für Referendar*innen und Proberichter*innen und sind regelmäßig mit Kolleg*innen in den Berliner Universitäten zu Gast, um über die Berufsbilder zu informieren, das Interesse der Studierenden zu wecken und sie zu einem Praktikum in der Justiz zu motivieren. Denn die Entscheidung für die Justiz beruht in den meisten Fällen auf persönlichen Erfahrungen. Die Referendarabteilung des Kammergerichts veranstaltet jährlich einen Justiztag in Gestalt eines World Cafés für Referendar*innen und hat ein Mentoring von Proberichter*innen für Referendar*innen ins Leben gerufen.

An all diesen Formaten beteiligen sich unsere jungen Proberichter*innen und leisten auch damit ihren Beitrag zu dem justiziellen Generationenvertrag. Auch für sie haben wir mit unserem, im 2jährigen Rhythmus im Kammergericht stattfindenden Orientierungstag ein Format etabliert, das zu einer weiteren Vernetzung der jungen Kolleg*innen führen und das ihnen zugleich aufzeigen soll, wie vielfältig die Einsatzmöglichkeiten in der Berliner Justiz sind. Und schließlich unser neuestes Projekt: Im November und Dezember 2024 wurden erstmals 5 Referendar*innen als wissenschaftliche Mitarbeitende in Nebentätigkeit eingestellt. Das Konzept ist manchen vielleicht unter dem Stichwort „Richterassistenz“ bekannt.

Liebe Frau Dr. Schröder-Lomb, herzlichen Dank für die Beantwortung unserer Fragen.

Das Interview führte Anna Radke schriftlich.