Repräsentation in der Justiz

Bildet die Justiz "das Volk" ab? Eine Frage, der wir nachgehen sollten.

Ein Richter mit türkischen Wurzeln am BVerfG, das wär’s, dachte ich, während eines Gespräches über die symbolträchtige Ernennung von Justice Ketanji Onyika Brown Jackson durch Präsident Biden. Das war im Sommer 2024, und zu diesem Zeitpunkt hatte ich über das Thema Repräsentation und Partizipation von Personen mit Migrationshintergrund in unserer Justiz ehrlicherweise nie besonders nachgedacht.

Dann begann ich ein bisschen zu googeln: Wie sie heißen und aussehen, unsere Richter:innen am BVerfG und beim BGH, und ich war ziemlich überrascht. Die nächste Überraschung war, dass offensichtlich keine Partei im Bundestag sich hier (offen) ein entsprechendes Ziel gesetzt hat. Obwohl es inzwischen ja viele Anwält:innen mit Migrationshintergrund gibt, und auch in der (Landes-) Justiz ja inzwischen ein substantieller Anteil von Personen mit Migrationshintergrund sichtbarer wird.

Beim Weiter-Googeln traf ich dann auf der Netzwerk Multikulturelle Jurist*innen e.V. (NMKJ), welches zusammen mit dem Verein Afro-Deutsche Jurist:innen die Veranstaltung “Vielfalt in der Justiz - Was kann der Staatsdienst tun, um mehr Vielfalt zu erreichen” organisierte. Eine gute Frage, dachte ich und erlebte dort eine ziemlich beeindruckende Diskussion. Jedenfalls konnte ich einige Vorurteile auflösen, z.B. meine bis dahin mir auch nur selbst erklärte Vorstellung, dass vielleicht die Jurist:innen aus der 2. und 3. Generation der sog. Gastarbeiter gar nicht unbedingt in den Staatsdienst wollen - weil man es vielleicht, wenn schon, dann gleich richtig, d.h. auch wirtschaftlich relevant, d.h. in den Kanzleien, “schaffen” will? Aber so einfach ist es wohl nicht. Daneben war es auch ermutigend, so viele ambitionierte Jurist:innen mit Migrationshintergrund zu erleben. Ein bisschen erinnerte mich das an ein Gefühl, das mich vor ein paar Jahren überraschte, bei irgendeiner Großveranstaltung, beim Blick auf das Polizeiaufgebot, das mir auf einmal als viel vielfältiger auffiel als zu meiner Jugend: “Puh, ein Glück, das kann niemand mehr zurückdrehen”, dachte ich da.

Jedenfalls fragte ich im Nachgang zu dieser Veranstaltung dann mal bei meinem Berufsverband, dem DRB, nach, ob das “für uns” eigentlich schon ein Thema sei: War es wohl noch nicht so richtig. Es folgten noch mehr Googeln und Fragen und Überraschungen:

Statistiken

In Berlin hat 39,4 Prozent der Berliner Gesamtbevölkerung einen Migrationshintergrund (Laut Mikrozensus 2023). Zum Anteil von Personen mit Migrationshintergrund in der Berliner Verwaltung wurde gerade erst im Frühjahr - auf Grundlage des neuen Berliner PartMigG (dazu gleich) - eine Erhebung durchgeführt (Befragung zum Migrationshintergrund im unmittelbaren Landesdienst Berlin 31.03.2024), und anhand der Rückmeldungen mit 21,7 % gemessen. Je jünger die rückmeldenden Befragten, umso höher der Anteil mit Migrationshintergrund (ca. 34 % bei Altersgruppe bis 29 Jahre). Für Richter:innen beträgt der Anteil bei ca. 580 Rückmeldungen ca. 15 %; bei den Rechtsreferendar:innen bei ca. 90 Rückmeldungen ca. 35 %. Nicht klar wird aus den veröffentlichten Erläuterungen, mit welcher Sicherheit angesichts der eingeschränkten Rücklaufquoten (insgesamt nur ca. 22 %) von dem Anteil an den Rückmeldungen auf die tatsächlichen jeweiligen Anteile geschlossen werden kann.

Der zugrunde gelegte Begriff zum Migrationshintergrund folgt aus dem PartMigG und entspricht der Verwendung beim Statistischen Bundesamt: Als Personen mit Migrationshintergrund gelten danach diejenigen, die selbst oder bei denen mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzen. Im täglichen Sprachgebrauch entstehen hier je nach Perspektive ggfs. Unschärfen, z.B. wenn ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, aber z.B. die familiäre Einwanderungsgeschichte weiter als in die 2. Generation zurückreicht. Am Begriff wird zudem kritisiert, dass er wenig über Lebensrealitäten aussage, stigmatisierend wirken könne. Im Kontext werden daher z.T. auch bewusst andere Begriffe verwendet, z.B. prominent das Netzwerk Multikulturelle Jurist*innen (NMKJ).

Berliner Initiativen

Die Berliner Politik und Justizverwaltungen waren in den letzten Jahren zu dem Thema aber offenbar ziemlich ambitioniert, wobei die konkreten Auswirkungen auf die Justiz allerdings schwer absehbar erscheinen:

So hat z.B. das Kammergericht 2023 die “Charta der Vielfalt” unterzeichnet, eine Arbeitgebendeninitiative zur Förderung von Vielfalt in Unternehmen und Institutionen. Schon in 2018 begann das Vorhaben “Mehr Vielfalt in der Berliner Justiz“, dem sich inzwischen offenbar alle Gerichte in Berlin angeschlossen haben. In der zugehörigen, zunächst bis 2024 laufenden Kooperationsvereinbarung wird das “gemeinsame Ziel” festgehalten, “eine vielfältige Berliner Justiz zu fördern, … und im Ergebnis insbesondere den Anteil von Menschen mit eigener/familiärer Migrationsgeschichte in der Berliner Justiz signifikant zu erhöhen. …”. SenJustV soll die Gesamtkoodinierung und das Kammergericht die “operative Koordination” übernehmen: “Als Einstellungsbehörde prüft das Kammergericht bestehende Handlungsspielräume bei den Einstellungsverfahren.”

Am meisten überrascht hat mich aber das Gesetz zur Förderung der Partizipation in der Migrationsgesellschaft des Landes Berlin (Partizipationsgesetz – PartMigG), welches in 2021 aus der Novellierung des Partizipations- und Integrationsgesetzes (PartIntG) hervorging. Ziel ist die Förderung der Partizipation und Stärkung der Integration als gesamtgesellschaftliche Aufgabe und die Durchsetzung der gleichberechtigten Teilhabe von Personen mit Migrationsgeschichte, weshalb das Land Berlin u.a. die Beschäftigung von Personen mit Migrationshintergrund gemäß ihrem Anteil an der Berliner Bevölkerung im öffentlichen Dienst gezielt fördern soll, § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 PartMigG.

Das Gesetz gilt ausdrücklich auch für die Gerichte und die Behörden der Staatsanwaltschaft, “soweit diese Verwaltungsaufgaben wahrnehmen”, was nach der Gesetzesbegründung lediglich justizielle Tätigkeit ausnimmt (AGH-Drs. 18/3631, S. 35: “sind außerhalb ihrer justiziellen Tätigkeit an das PartMigG gebunden”), was sich auch daran zeigt, dass Beamt:innen sowie Richter:innen im Übrigen vorbehaltlos vom Beschäftigtenbegriff des Gesetzes erfasst sind (§ 3 Abs. 3), weshalb sich die erwähnte Befragung Anfang des Jahres (auf Grundlage von § 9 PartMigG) ja auch an sie richtete, und weshalb bei der Bewerbung zum staatsanwaltschaftlichen oder richterlichen Probedienst der Migrationshintergrund als freiwillige Angabe abgefragt wird (§ 8 Abs. 1 PartMigG).

Zur Zielerreichung setzt der Gesetzgeber auch im Übrigen nicht auf affirmative action (im Sinne von eine Positivdiskriminierung zum Ausgleich von Unterrepräsentation), sondern auf zurückhaltendere fördernde Ansätze. Eine wichtige Säule sind die bereits erwähnten Erhebungen zum Personalbestand. Daneben u.a.: Sicherstellung der Weiterbildung von migrationsgesellschaftlicher Kompetenz insbesondere durch Fortbildungsangebote und Qualifizierungsmaßnahmen (§ 6 Abs. 1), der Senat soll eine “Strategie” entwickeln und “Maßnahmen” ergreifen zur Förderung der Beschäftigung von Personen mit Migrationshintergrund entsprechend ihrem Anteil an der Berliner Bevölkerung (§ 7 Abs. 2), jede öffentliche Stelle mit mindestens 40 Beschäftigten (d.h. wohl: jedes Gericht) soll einen entsprechenden Förderplan aufstellen (§ 9). Bei Stellenausschreibungen ist darauf hinzuweisen, dass Bewerbungen von Personen mit Migrationsgeschichte ausdrücklich erwünscht sind (§ 10 Abs. 1). Es soll gezielte Personalmarketingmaßnahmen geben (§ 10 Abs. 2). Bei Auswahlgesprächen soll es möglichst zu einer repräsentativen Einladung von Personen mit Migrationshintergrund kommen (§ 11 Abs. 1), die bei gleicher Qualifikation gezielt geworben und unter Beachtung des Vorrangs der in Art. 33 Abs. 2 GG festgelegten Grundsätze bei Einstellungen in besonderem Maße berücksichtigt werden (§ 12 Abs. 1). Die Umsetzung der Zielvorgaben des Gesetzes it als “besondere Aufgabe der Führungskräfte” festgehalten, was bei der Beurteilung ihrer Leistung berücksichtigt werden soll, § 5 Abs. 2 PartMigG.

Und der DRB?

Ist das ein Thema für den DRB? Ich würde sagen, auf jeden Fall. Schon weil die Komplexität der Regelungen und Selbstverpflichtungen ja Fragen aufwirft, v.a. wie das in der Praxis denn umgesetzt wird (z.B.: welche Strategien und Förderpläne sind zu erwarten?) und wie die Ansätze für die Justiz überhaupt funktionieren können.

Aber auch unabhängig von diesen praktischen Fragen, und unabhängig davon, wie man zu den Ansätzen steht, sollte das Thema m.E. ein DRB-Thema sein. Denn das Ziel ist ja richtig und wichtig, und, wenn es, wie beim Migrationshintergrund, um Repräsentation entlang von diskriminierungsanfälligen Merkmalen geht, auch eine Gerechtigkeits- und Gleichheitsfrage. Die Justiz dürfte insgesamt profitieren, wenn das Versprechen, “im Namen des Volkes” zu urteilen, noch etwas überzeugender wirkt, und wenn mehr Perspektiven ins Urteilen und Anklagen einfließen. Rückblickend sind vergleichbare Effekt durch “Vielfalt” ziemlich gut dokumentiert, jüngst z.B. anhand einer Untersuchung zur frühen Rechtsprechung des BGH, wie dort z.B. eine der ersten Frauen am höchsten deutschen Zivilgericht, Ri’inBGH Gerda Krüger-Nieland, mit ihren speziellen Erfahrungen die Entwicklung des APR prägte, und gegen seinerzeitige Vorstellungen der Senatsmehrheit zum gottgegebenen “Vorrecht” des Mannes in der Ehe argumentierte (vgl. LTO 19.11.2024).

Und, das Thema birgt ja auch Kontroversen, vielleicht Störgefühle: Läuft § 12 Abs. 1 PartMigG nicht leer, weil das Prinzip der Bestenauslese aus Art. 33 Abs. 2 GG ja ohnehin ausdrücklich gewahrt wird? Und ist unser Staatsexamen denn nicht schon höchst objektiv? Ist es denn nicht besser, Herkunft und Hautfarbe überhaupt nicht mehr zu thematisieren? Umgekehrt, vielleicht sind die Ansätze zu zurückhaltend? Können die ganzen “weichen” Ansätze im Justizbereich überhaupt messbare Auswirkungen haben? Wieso keine verpflichtenden Diversity-Trainings oder zur Auseinandersetzung mit sog. “White Fragility”? Und können wir als Justiz das Thema Kopftuchverbot auf sich beruhen lassen, oder verblasst die ggfs. einmal vorhandene Überzeugungskraft zum Verbot nicht mehr und mehr? Was ist mit anderen Diversity-Merkmalen?

Also, ich denke: Der DRB sollte hier ein Thema haben. Der Beitrag hier spiegelt allein meine persönliche Nicht-Experten-Sichtweise. Ich werde versuchen, das Thema weiter zu begleiten und verschiedene Sichtweisen und Stellungnahmen für die Debatte im DRB einzuholen, auch dazu, wie SenJustV und Kammergericht das denn jetzt tatsächlich angehen. Und ich freue mich, wenn andere im oder mit dem DRB hier mitwirken wollen. Wie wir uns als DRB hier positionieren können oder mitwirken wollen, bliebe ohnehin zu diskutieren und abzustimmen, natürlich auch und gerade mit Ihnen, liebe DRB-Mitglieder!

Dr. Daniel Holznagel