Rechtsstaat auf Abstand – Abstand vom Rechtsstaat?

 

Notbetrieb, Systemrelevanz, richterliche Unabhängigkeit und ein Virus

„Rechtsstaat im Krisenmodus“, so titelte die Deutsche Richterzeitung dieser Tage. Verschlossene Gerichte hier, Verfahrensbeteiligte hinter Schutzscheiben dort, Kammern oder Senate auf Distanz, unzählige aufgehobene Verhandlungstermine, ganze Kollegien im Homeoffice – so außergewöhnlich die Herausforderungen waren, die das neuartige Sars-2-Coronavirus für die Gesellschaft mit sich brachte, so außergewöhnlich waren auch die Maßnahmen der Justiz. Die derzeitige Vorsitzende der Konferenz der Justizministerinnen und -minister, die Bremer Senatorin für Justiz und Verfassung Claudia Schilling, erklärte am 18. Mai 2020 gleichwohl: „Unser Rechtsstaat und die Grundrechte standen und stehen nicht unter Pandemie-Vorbehalt! Der grundgesetzlich garantierte Zugang zum Recht blieb und bleibt auch während dieser Ausnahmesituation gewährleistet“. Wie berechtigt ist dieses positive Zwischenfazit zur Justiz im Notbetrieb?

Aus unserer Sicht als Sozialrichter in Berlin mögen die Gerichte zwar ihren Beitrag dazu geleistet haben, die berühmte Ansteckungskurve abzuflachen. Ihrer eigentlichen Aufgabe sind sie aber oft über mehrere Monate hinweg nur stark eingeschränkt nachgekommen. Wenn es die befürchtete zweite Infektionswelle gibt, sollten wir besser gerüstet sein – und dazu die derzeitige Atempause nutzen.

Im Rückblick muss man denjenigen Respekt zollen, die unter den beispiellosen Bedingungen der letzten Monate bereit waren, Entscheidungen zu treffen, nicht zuletzt auch in Personalverantwortung für die Justizbeschäftigten. Respekt gebührt indes auch jenen, die diese Entscheidungsprozesse begleitet und Maßnahmen kritisch hinterfragt haben. Selbstverständlich konnte niemand erwarten, dass bei der schwierigen Abwägung zwischen den Notwendigkeiten des Gesundheitsschutzes und der bestmöglichen Erfüllung des verfassungsrechtlichen Auftrags der Justiz durchgehend optimal gehandelt werden würde. Gerade unter Zeitdruck und bei einer unsicheren, dynamischen Informationslage wäre Fehlerfreiheit einem Wunder gleichgekommen. Umso wichtiger ist es nunmehr, mit etwas Abstand eine kritische Analyse vorzunehmen. Sie kann hoffentlich dazu beitragen, die zukünftige Praxis zu verbessern.

Notwendige „Selbstverzwergung“?

So wurde auch am Sozialgericht Berlin, wie im VOTUM 1/2020 mit durchaus verstörender Wortwahl formuliert, der Gerichtsbetrieb „planvoll“ auf die Bearbeitung der Eilsachen reduziert. Als in diesem Notbetrieb Termine abgeladen wurden, die Serviceeinheiten in Hauptsacheverfahren keine Akten mehr bearbeiten durften und im Übrigen zunächst nichts weiter geschah, erreichten uns einige kritische Nachfragen von außerhalb. Weder bei den verfahrensbeteiligten Behörden noch bei der Anwaltschaft war allen unmittelbar verständlich, weswegen etwa auf Post nicht reagiert wurde, eingeholte medizinische Gutachten nicht übersandt oder Rechnungen nicht bezahlt wurden. Nicht nur Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, die weiterbearbeitet wurden, sondern auch manche regulären Klagen waren aus der oft verständlichen Perspektive der Beteiligten eilig. Ein Beispiel sind betagte Personen mit gravierenden Erkrankungen, die für den Pflegegrad, ein Hilfsmittel oder schwerbehindertenrechtliche Merkzeichen streiten: Während des – zeitlich unabsehbaren – Verfahrensstillstands zerrinnt ihnen womöglich knappe Lebenszeit zwischen den Fingern. Überdies wurde Transparenz darüber vermisst, wie das Gericht beabsichtigte, in den nächsten Monaten zu verfahren. Wann würde welche Klage wieder bearbeitet werden, wann könnten gar wieder Verhandlungstermine stattfinden? Auch aus der Innensicht ergab sich manche Frage: Warum konnte nicht in jedem Büroraum des Gebäudes eine Person halbwegs regulär arbeiten? Waren nicht viele Säle groß genug auch für Sitzungen unter den gebotenen Schutzvorkehrungen?

In der Tat erschloss sich nicht ohne Weiteres, wer aufgrund welcher Erkenntnisse und mit welchen Argumenten beschlossen hatte, den Betrieb auf 10 bis 20 Prozent der vorhandenen Verwaltungskapazität zu reduzieren. Ein „Krisenstab“ meldete sich mit zwar fürsorglichen, aber weniger an Informations- und Meinungsaustausch als an der Durchsetzung möglichst einheitlicher Stilllegungsmaßnahmen interessierten Worten. So entstand insgesamt leider nicht der Eindruck, als sei es oberste Priorität des Gerichts, in rechtsstaatlicher Verantwortung die eigene Aufgabe soweit wie möglich zu erfüllen, also eben nur soweit einzuschränken, wie für den Gesundheitsschutz der Beschäftigten und angesichts fehlender Kinderbetreuungsmöglichkeiten unabdingbar. Das Signal, das damit an die eigenen Beschäftigten wie an die Öffentlichkeit gesendet wurde, war eines von eindeutiger „System-Irrelevanz“: Offenbar herrschte die Ansicht vor, dass der Wohlfahrtsstaat mindestens für ein paar Monate auch ohne gerichtliche Überprüfbarkeit auskommen würde, rechtsstaatliche „checks and balances“ also in Krisenzeiten weniger wichtig seien. Konnte es bei einem solchen Selbstverständnis überraschen, wenn Außenstehende die Berliner Justizbeschäftigten ebenfalls nicht für „systemrelevant“ hielten und es z. B. viele Wochen dauerte, bis sie in die Kindernotbetreuungsangebote einbezogen wurden? Anstelle einer solchen „Selbstverzwergung“ hätte hier etwas mehr rechtsstaatliche Selbstachtung gutgetan.

Wer schließt, wer betritt

Die Pandemiesituation offenbarte auf besonders plastische Weise, wie schlecht es um die institutionelle Unabhängigkeit der Justiz in Deutschland bestellt ist: Die den Justizministerien nachgeordneten Gerichtsverwaltungen konnten nach eigenen Kriterien schalten und walten. Teilweise wurde – über den nachvollziehbaren Wunsch nach Beratung und Informationen zum Gesundheitsschutz hinaus – sogar aus der Justiz selbst der Ruf nach Weisungen „von oben“ laut, was einer rechtsstaatlichen Gewaltenteilung unwürdig ist. Es fehlen institutionelle Vorkehrungen, die die Judikative effektiv vor exekutiven Anweisungen bis hin zur Schließungsanordnung schützen könnten.

Dabei dürften längst nicht alle Maßnahmen der Gerichtsverwaltungen rechtlich unangreifbar gewesen sein. Man denke etwa an Betretungsanordnungen, die auf das Hausrecht gestützt wurden und zumindest faktisch die Durchführung öffentlicher Verhandlungen verhinderten. Besonders zu denken gibt ein Beispiel aus Mecklenburg-Vorpommern: Dort entschied der Präsident des Landessozialgerichts mittels „Hausverfügung“ – aufgrund der Nutzung derselben Immobilie auch gleich für „die Richterschaft des Amtsgerichtes Waren in Neustrelitz“ – die Schließung des Gebäudes für die Durchführung mündlicher Verhandlungen und aller sonstiger richterlicher Termine mit Außenstehenden. Ausnahmen seien nur „theoretisch […] denkbar“, wenn „ein am Rechtsstreit beteiligter Bürger (oder eine vergleichbare juristische Person) selbst unter den jetzigen Umständen unbedingt einen solchen Termin einfordert, existentielle Gründe geltend macht und schriftliche oder telefonische Versuche einer Erledigung des Falles nicht zum Erfolg führen“. Begründet wurde diese „Hausverfügung“ u. a. mit der fragwürdigen Annahme, es sei „erkennbar nicht systemrelevant“, ob Verhandlungen am Landessozialgericht bei einer ohnehin als normal anzusehenden ca. einjährigen Verfahrensdauer „in Kürze oder erst in einigen Monaten stattfinden“. Immerhin vermochte der Dienstgerichtshof bei dem Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern hierin eine Maßnahme der Dienstaufsicht im Sinne von § 26 Abs. 3 DRiG zu erkennen, also keine bloße Organisationsmaßnahme; er hielt diese allerdings im einstweiligen Rechtsschutz für „durch die Notwendigkeit eines geregelten Dienstbetriebes gerechtfertigt“. Zu Recht sah sich der Dienstgerichtshof zu dem Hinweis veranlasst, dass die Entscheidung, ob eine mündliche Verhandlung oder ein nichtöffentlicher Termin durchgeführt werden solle, in richterlicher Unabhängigkeit getroffen werde und durch die Gerichtsleitung, gegebenenfalls unter die richterliche Unabhängigkeit respektierenden Anordnungen zur Aufrechterhaltung eines geregelten Dienstbetriebs, zu ermöglichen sei (DGH für Richter bei dem OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 06.04.2020 – 12 M 265/20 [DGH]).

Mitunter wurden im Rahmen ähnlicher Anordnungen sogar ehrenamtliche Richterinnen und Richter als „gerichtsfremde Personen“ behandelt, die das Gebäude nicht betreten durften. Wie öffentliche Zustellungen gesetzeskonform möglich sein sollten, wenn Dokumente an Tafeln hinter verschlossenen Türen ausgehängt werden, blieb ebenfalls ungeklärt.

Autonomie und Kreativität

Aber auch jenseits derartiger Exzesse bleibt das strukturelle Problem, dass effektive Selbstverwaltungsstrukturen der Richterschaft fehlen, die exekutiven Maßnahmen etwas entgegenzusetzen hätten. So sind bedenkliche Präzedenzfälle geschaffen worden, die potenziellen zukünftigen Justizministerien mit autoritärem Sendungsbewusstsein in die Hände spielen könnten. Ein Blick in unser polnisches Nachbarland sollte genügen, um ein solches Szenario nicht für schlechthin undenkbar zu halten. Wie verträgt es sich mit dem grundrechtlichen Justizgewährleistungsanspruch oder mit der Gewaltenteilung, wenn etwa schon ein (befürchteter) Mangel an Verwaltungspersonal dazu ermächtigen soll, die Durchführung von Verhandlungen faktisch unmöglich zu machen? Der hehre Anspruch aus Art. 92 Grundgesetz, die rechtsprechende Gewalt sei „den Richtern anvertraut“, wird so recht schnell praktisch ausgehöhlt.

Die Einführung echter Autonomie der dritten Staatsgewalt, wie sie europaweit die Regel ist, bleibt ein langfristiges, verfassungsstaatlich erforderliches Projekt. Kurzfristig besteht nun die Herausforderung darin, den Weg aus dem weitgehenden Stillstand zu finden und den aktuell noch immer reduzierten Betrieb zu optimieren, nicht nur durch erweiterte Digitalisierung, sondern durch kreative Lösungsversuche in allen Bereichen des gerichtlichen Alltags. Deutlich geworden sollte sein, dass ein extremer Notbetrieb jedenfalls bei großen Gerichten schon nach wenigen Wochen dazu führt, dass Rückstände allenfalls über längere Zeit und mit einem außergewöhnlichen Kraftakt aufgeholt werden können. Auch vermehrte Anstrengungen zur Digitalisierung können hier, gerade kurzfristig, nur punktuell entlasten.

Viel spricht dafür, dass ein schrittweiser Ausweg aus dem Notbetrieb, gerade auch bei zwischenzeitlichen Rückschlägen, besser gelingen wird, wenn im Sinne echter Teilhabe mehr Beteiligte aller Beschäftigtengruppen Ideen einbringen können und damit Gehör finden. Auch könnten Berliner Gerichte sich noch intensiver koordinieren – ob bei der Beschaffung notwendiger Schutzausstattung oder bei der Suche nach kreativen Lösungen.

Alexander Richter, RiSG

Dr. John Philipp Thurn, RiSG