Recht und Unrecht

Der Bürgerrechtler Gerd Poppe, hat auf dem Neujahrsempfang des Deutschen Richterbundes Landesverband Berlin, am 22. Januar 2020 eine ergreifende Rede gehalten. Mit seiner freundlichen Genehmigung veröffentlichen wir eine gekürzte Fassung des Vortrages.

Ich will über Recht und Unrecht reden, über „Rechtsprechung“ im Unrechtsstaat und über den Umgang des Rechtsstaates mit der Hinterlassenschaft der Diktatur. Ich möchte über die Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der kommunistischen Diktatur sowie über einige bis heute unzureichend behandelte Probleme und offene Fragen sprechen.

 

Politische Verfolgung

 

Wichtigstes Merkmal des Rechtsstaats ist die Gewaltenteilung. Bürgerinnen und Bürger sind durch freie und demokratische Wahlen an staatlichen Entscheidungen beteiligt bzw. können sie in regelmäßigen Abständen durch ihr Wahlverhalten beeinflussen oder korrigieren. Wenn sie ihre im Grundgesetz verankerten Rechte beeinträchtigt sehen, können sie sich an unabhängige Gerichte wenden.

Auch in der DDR gab es eine Verfassung. In ihrem Wortlaut von 1949 waren Grundrechte zum Teil in ähnlicher Weise formuliert wie im Grundgesetz. Artikel 9 lautete: „Alle Bürger haben das Recht, innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze ihre Meinung frei und öffentlich zu äußern und sich zu diesem Zweck friedlich und unbewaffnet zu versammeln“. Wer jedoch dieses Recht in Anspruch nehmen wollte, wer insbesondere Kritik an der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) übte oder an der kommunistischen Partei der Sowjetunion, die in den frühen Jahren der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) / DDR die Aufsicht führte, landete sehr schnell im Gefängnis oder Zuchthaus oder in einem sibirischen Straflager. Nach Gründung der DDR 1949 bis zu Stalins Tod im März 1953 wurden fast 1000 Deutsche, darunter viele junge Menschen vom DDR-Staatssicherheitsdienst verhaftet, an die sowjetischen Militärbehörden übergeben und in Moskau erschossen.[…]

Nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 wurden zwischen 13000 und 15000 Personen inhaftiert und tausende Urteile gesprochen. Zur größten Verhaftungswelle in der Geschichte der DDR kam es nach dem Mauerbau 1961. Zugleich änderte sich die Rechtslage für die gesamte Bevölkerung, da sie aufgrund der totalen Abschottung faktisch in Präventivhaft genommen wurde.

Um einige Formen politischer Verfolgung summarisch zu nennen, erwähne ich die Schauprozesse der 1950er Jahre, die Zwangsarbeit, die Entführungen aus dem Westteil Berlins in die DDR, den Schusswaffengebrauch an der Grenze, die Zwangsumsiedlungen und weiteren Grenzschikanen, die Einweisungen von Kindern und Jugendlichen in Spezialkinderheime und Jugendwerkhöfe. Schätzungen zufolge ist in der SBZ/DDR von etwa 250.000 politischen Gefangenen auszugehen, aber politische Verfolgung war nicht auf die Inhaftierung begrenzt. […] Es erfolgten Post- und Telefonkontrollen, die Überprüfung bzw. Verhinderung von Ausbildungschancen oder Arbeitsmöglichkeiten, Verwaltungsschikanen jeglicher Art, sogenannten „Zuführungen zur Klärung eines Sachverhalts“ sowie konspirative Durchsuchungen und technische Überwachungen von Wohnungen. Vor allem aber wurde – besonders in den 1970er Jahren - das Spitzelsystem der „inoffiziellen Mitarbeiter“ der Stasi auf exzessive Weise ausgebaut.

 

„Zersetzung“ als Unterdrückungsmaßnahme

 

Besondere Bedeutung erhielten seit 1976 die sogenannten Zersetzungsmaßnahmen. „Zersetzung“ war ein Kampfbegriff Mielkes, durch sie sollte Opposition und Widerstand verhindert, sollten familiäre und Gruppenzusammenhänge zerstört werden. Dazu ein Beispiel aus einem „Operativen Vorgang“ (mit Zitaten aus Originalakten): So soll der dort genannten Ehefrau ein Studium angeboten werden, auch eine Wiederermöglichung von Reisemöglichkeiten ins „sozialistische Ausland“. Parallel dazu soll dafür gesorgt werden, dass der Ehemann seine „arbeitsmäßigen und sozialen Probleme nicht verbessern kann“. An die Ehefrau „wird die Kontaktperson ‚Harald‘ mit dem Ziel herangeschleust, zwischen beiden ein Intimverhältnis aufzubauen (Termin Juli 1987)“. Der Ehemann „ist durch gezielte anonyme Informationen an seiner Arbeitsstelle zu diskriminieren….Die Informationsübermittlung erfolgt durch anonyme Briefe.“ Geplante Veröffentlichung eines Artikels über seine Tochter, in dem ihre bisherige schriftstellerische Tätigkeit wie auch „ihre feste politische Überzeugung gewürdigt“ wird, wodurch die Tochter vom Vater entfremdet werden soll. Ebensolche Zielstellung hinsichtlich des gerade eingeschulten jüngeren Sohnes: „Positive Beeinflussung“ mit Hilfe der Schuldirektorin. Der letzte Satz dieses Plans lautet: „Zur Verunsicherung und Diskriminierung des … in seinem Bekanntenkreis wird kompromittierendes Material erstellt und in Umlauf gebracht. Termin: ständig“.

Diese Sätze waren Teil eines Zersetzungsplans gegen meine damalige Frau und mich. Nun war dieser Plan natürlich ebenso perfide wie unsinnig. Die Förderung der Kinder hat uns nicht entzweit, sondern eher beruhigt. Die Stasi ist tatsächlich in der Schule gewesen und hat vor dem sechsjährigen Schulanfänger und seinen Eltern gewarnt. Die Kontaktperson ‚Harald‘ hat es tatsächlich gegeben - das war ausgerechnet ein jüngerer DDR-Richter. Die Stasi hat ihm bei drei Treffen, die ebenfalls in den Akten nachzulesen sind, ausführlich erörtert, wie er es anzustellen hat, von meiner Ehefrau wahrgenommen zu werden. Sogar Eintrittskarten für die Oper hat ein Stasi-Offizier ihm besorgt – alles vergeblich. Darin ist viel unfreiwillige Komik enthalten – nachträglich. Aber vor allem war das ein unglaublich bösartiger Angriff auf die Privatsphäre.

„Zersetzung“ war auch die vorgesehene Methode, um Oppositionsgruppen zu zerstören. In unserer Ende 1985 gegründeten „Initiative Frieden und Menschenrechte“, gab es in den späten 1980er Jahren gleichzeitig mindestens sechs inoffizielle Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit. Von ihren Führungsoffizieren hatten sie den Auftrag erhalten, die Gruppenarbeit zu stören, z.B. mit endlosen oder sinnlosen Diskussionen und absurden Aktionsvorschlägen. […]

 

Grundrechte nur auf dem Papier

 

1968 hat die SED eine neue Verfassung in Kraft gesetzt, die 1974 noch einmal modifiziert wurde. Der neue Artikel 1 lautete: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“. Nicht die Würde des Menschen – wie im Artikel 1 des Grundgesetzes – ist unantastbar, sondern nur die Macht der SED.

In dieser neuen Verfassung rückten die Grundrechte schon systematisch weit nach hinten. Artikel 9 zur Meinungsfreiheit wurde zum Artikel 27 usw. Alle Rechte wurden unter den Vorbehalt „den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß“ gestellt. Somit waren nur Meinungen und Versammlungen erlaubt, die den Alleinvertretungsanspruch der SED bestätigten. Artikel 31 behauptete, dass das Post- und Fernmeldegeheimnis unverletzbar wären, obwohl in den Hinterzimmern von Postämtern die Stasi-Mitarbeiter unsere Post durchschnüffelten, sogar sogenannte Sonderleerungen von Briefkästen in den Stasiakten nachweisbar sind und Privattelefone abgehört wurden. Artikel 37 stellt fest: „Jeder Bürger hat das Recht auf Unverletzbarkeit seiner Wohnung“. Was die Stasi 1981 nicht davon abgehalten hat, ein hochempfindliches Mikrofon vom Dachboden aus in der Decke unseres in der oberen Etage gelegenen Wohnzimmers anzubringen. Die unfreiwillige Komik hierbei: Als ich mich über eine Ordnungsstrafe beschwerte, die mir wegen Schriftstellerlesungen in meiner Wohnung auferlegt worden war, antworte mir die Abteilung Erlaubniswesen der Deutschen Volkspolizei, die eng mit der Stasi verbandelt war: Schließlich hätte ich das Recht auf Unverletzbarkeit meiner Wohnung verletzt.

Mit anderen Worten: Nicht ein einziger dieser Grundrechteartikel der DDR-Verfassung war das Papier wert, auf dem er stand. Wer dennoch solche Rechte wahrnahm, geriet schnell in Konflikt mit dem Strafgesetzbuch, konnte wegen „staatsfeindlicher Hetze“, „Staatsverleumdung“, „ungesetzlicher Verbindungsaufnahme“ oder „Zusammenrottung“ verurteilt werden.

 

DDR – Ein Unrechtsstaat

 

Es gab in der DDR weder Verwaltungsgerichte noch ein Verfassungsgericht, so dass es den von den Entscheidungen Betroffenen nicht möglich war, diese gerichtlich anzufechten. Beschwerden wurden im Allgemeinen an die gleichen Stellen verwiesen, die für eine Entscheidung verantwortlich waren, und von diesen abgelehnt. In politischen Prozessen hatten Staatsanwälte und Richter von der SED-Führung vorgegebene Plädoyers, Urteile und Urteilsbegründungen vorzutragen und zu verkünden. Das Jurastudium war einer kleinen Zahl von Privilegierten vorbehalten, die sich eindeutig zum SED-Staat bekannten und entsprechend verhielten. Kennzeichnend für das Rechtswesen in der DDR war auch die äußerst geringe Zahl von Rechtsanwälten – in den 1980er Jahren waren es landesweit nur etwa 600. […]

Das Resümee dieses ersten Teils meiner Ausführungen kann sehr einfach beschrieben werden: Die Herrschaft des Rechts, die den demokratischen Rechtsstaat ausmacht, wurde in der DDR auf den Kopf gestellt durch willkürliche Entscheidungen einer kleinen selbst ernannten Herrschaftsclique, die sich niemals einer Wahl gestellt hat und die für zahlreiche tragisch verlaufene Biografien verantwortlich zu machen ist. Ich kenne kein ernstzunehmendes Argument gegen den Begriff des Unrechtsstaates.

 

Rolle der Opposition

 

Im Folgenden will ich kurz auf die Opposition eingehen und auf ihre Entwicklung, die zur friedlichen Revolution beitrug. In der frühen Zeit von SBZ/DDR gab es Widerstand gegen die kommunistische Diktatur aus dem sozialdemokratischen wie auch dem konservativ-bürgerlichen Lager. All diese Menschen sind entweder im Gefängnis gelandet oder in den Westen geflohen. Nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 führte die massive Repression dazu, dass die Erscheinungsformen von Widerstand und Opposition sich veränderten. Kritische Stimmen wurden in der Folgezeit auch aus den Reihen derer hörbar, die sich zwar für ein sozialistisches System engagierten, das bestehende jedoch verändern wollten. Die zerschlagenen Demokratisierungsversuche von 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei führten zur großen Enttäuschung linker Intellektueller, nicht aber schon zur Aufgabe ihrer Reformträume. Ich weiß, wovon ich rede, war ich doch selbst nicht weit von diesen Hoffnungen entfernt, hatte ich doch seit 1970 gute Freunde, die sowohl links als auch Dissidenten waren, wie Robert Havemann und Wolf Biermann.

Von manchen Journalisten und Historikern wird regelmäßig behauptet, die DDR-Opposition wäre für einen dritten Weg und gegen die deutsche Einheit gewesen. Das ist so pauschal wie falsch. Richtig ist, dass die Opposition nie als monolithischer Block anzusehen war. Ich spreche hier nur für den Teil des weit gefächerten Spektrums der Opposition, der nicht mehr auf die Reformierbarkeit des sowjetisch geprägten Herrschaftssystems hoffte. Wir wollten nicht mehr endlos über alternative Gesellschaftsmodelle diskutieren. Wir wollten eine pragmatische, den Menschenrechten verpflichtete Politik entwickeln, eigenständig Handelnde werden, die für die Mitbürger erkennbar sind. […]

Oppositionelle entwickelten sich aus folgenlos agierenden konspirativen Kleingruppen zu Akteuren, welche die Öffentlichkeit suchten, dies unter anderem mit der Herausgabe eigener illegaler Samisdat-Zeitschriften, sodann sich landesweit mit Gleichgesinnten vernetzten. 1989 führte das schließlich zur Gründung neuer Bewegungen und Parteien und hatte einen wesentlichen Anteil an den Ereignissen des Herbstes 1989, die aus mehreren Gründen möglich wurden: der Flucht- und Ausreisewelle, der wirtschaftlichen Misere der DDR, der politischen Entwicklung in Polen und Ungarn, der Reformversuche Gorbatschows. Die Initialzündung der Revolution ging jedoch von der zahlenmäßig kleinen Opposition aus.

Zum Tag der Menschenrechte 1987 hatten wir für die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ eine Erklärung herausgegeben, worin wir als unsere wichtigsten Ziele die Herstellung von Rechtsstaatlichkeit und die Demokratisierung nannten. Natürlich folgten Festnahmen und Verhöre, aber in der Folgezeit wurden derartige Forderungen immer häufiger hörbar und ließen sich nicht mehr auf repressive Weise unterdrücken. Die friedliche Revolution kündigte sich bereits an. Sie war kein spontanes Ereignis des Oktobers 1989 sondern ein Resultat einer langjährigen Entwicklung in Ostmitteleuropa und auch der DDR. […]

Letztlich haben wir unser Hauptziel erreicht, die Diktatur musste dem Rechtsstaat weichen. Dies geschah in der erwünschten und zugleich einzig logischen Reihenfolge: Erstens Freiheit, zweitens Demokratie, drittens Einheit.

 

Aufarbeitung brachte keine Genugtuung

 

Mit dem Ende des SED-Staates begann sogleich dessen Aufarbeitung. Es sollten nicht die Fehler wiederholt werden, die mit der verspäteten und lückenhaften Aufklärung und Ahndung der NS-Verbrechen verbunden waren. Was in Deutschland zur Aufarbeitung der SED-Diktatur seit 1989/90 geleistet wurde, ist in seiner Gesamtheit durchaus beeindruckend und geht weit über das hinaus, was in anderen Staaten des ehemaligen sowjetischen Machtbereichs wie auch in weiteren Staaten mit diktatorischer Vergangenheit möglich war und ist. […]

Zur juristischen Aufarbeitung möchte ich die folgenden Fragen aufwerfen: Kann juristische Aufarbeitung überhaupt Gerechtigkeit schaffen? In welchem Maße ist der demokratische Rechtsstaat in der Lage, mit den Hinterlassenschaften der Diktatur angemessen umzugehen?

Zur juristischen Aufarbeitung gehört u.a. die strafrechtliche Verfolgung des SED-Unrechts sowie die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer. Erste Verfahren gab es noch in der Endphase der DDR wegen Amtsmissbrauchs und Wahlfälschung. Sie endeten mit Bewährungs- und Geldstrafen, nur in einem Fall mit Haftstrafe ohne Bewährung. Die eigentliche Strafverfolgung begann mit der deutschen Einheit. Zehn Jahre später, am 3. Oktober 2000, waren alle Taten mit Ausnahme von Mord verjährt. Die letzten Verfahren und somit die Strafverfolgung von DDR-Unrecht wurden 2005 abgeschlossen. Insgesamt hat es 1021 Verfahren gegen 1737 Angeschuldigte gegeben, in denen Anklage erhoben wurde. Verfolgte Delikte waren unter anderem: Rechtsbeugung (ca. ein Drittel der Fälle), Wahlfälschung, Straftaten des MfS, Misshandlung von Gefangenen, Doping, insbesondere aber die Tötungen an der innerdeutschen Grenze (ca. ein Viertel aller Fälle). Die meisten Verfahren endeten mit Bewährungsstrafen oder Freisprüchen. Nur 40 Angeklagte wurden zu Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt.

Bei den Opfern des SED-Unrechts löste die geringe Zahl von Verurteilungen tiefe Frustration und Verbitterung aus. Sie wurden in ihrer Auffassung bestärkt, dass der demokratische Rechtsstaat nicht in der Lage sei, das an ihnen begangene Unrecht angemessen zu bestrafen. Es ist in der Tat schlicht unverständlich, dass der Staatssicherheitsminister Mielke ausschließlich wegen der Berliner Polizistenmorde 1931 angeklagt wurde und nicht wegen der tausendfachen Menschenrechtsverletzungen, die unter seiner Leitung geschehen sind. Unverständlich ist auch, warum das Bundesverfassungsgericht hochrangigen Stasioffizieren einen Teil ihrer Sonderrenten wieder zuerkannt hat, nachdem die einzig frei gewählte Volkskammer diese Privilegien gestrichen hatte. Im Ergebnis ist die durchschnittliche Rentenversorgung der Täter mit Abstand besser als die der meisten ihrer Opfer. Gerecht ist das nun wirklich nicht. […]

 

Keine juristischen Möglichkeiten?

 

Wir sind uns sicher darin einig, dass Filbingers auf das NS-Unrecht bezogener Satz: „Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein“ angesichts der Naziverbrechen nicht hinnehmbar ist. Es hat indes nichts mit Gleichsetzung von Nazi-Unrecht und SED-Unrecht zu tun, wenn die Frage gestellt wird, ob nicht auch bei der juristischen Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktatur noch in anderen Fällen eine Relativierung des Rückwirkungsverbots denkbar gewesen wäre, als ausschließlich im Falle der Tötungen an der innerdeutschen Grenze.

Bis heute hält die Kontroverse zwischen Vertretern eines strikten Rechtspositivismus und denjenigen an, die neben dem gesetzten Recht die allgemein anerkannten und schließlich auch durch Ratifizierung der einschlägigen UN-Pakte rechtsgültig gewordenen elementaren Menschenrechte berücksichtigt wissen wollen. Immer wieder wird auch über die Anwendbarkeit der Radbruch’schen Formel diskutiert, wonach zwar das „positive“ Recht Vorrang habe, jedoch ausgesetzt werden kann, wenn es zu „unerträglichem Unrecht führt“. Was also ist unerträgliches Unrecht? Ausschließlich der Tod des an der Grenze Erschossenen oder des aus rein politischen Gründen zum Tode Verurteilten? Was ist unerträgliches Unrecht für die noch lebenden, häufig traumatisierten Opfer? […]

Ein weiteres Problem war die nicht ausreichende Ausstattung der Justiz, insbesondere zur Verfolgung von Regierungs- und Vereinigungskriminalität. Dennoch ist die Justiz in mancher Weise unter ihren Möglichkeiten geblieben. Christoph Schäfgen, damals mit der Verfolgung von Regierungs- und Vereinigungskriminalität betrauter Generalstaatsanwalt, stellte fest: „Weil der Bundesgerichtshof aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes die von den ehemaligen Justizfunktionären der DDR vorgenommene extensive Auslegung (…) des politischen Strafrechts in der Anwendung auf Dissidenten, Oppositionelle und Ausreisewillige als ‚noch nachvollziehbar‘ hinnahm, ist es so gut wie gar nicht zu Verurteilungen gekommen.“

Ich will die Leistungen der Justiz insgesamt dennoch anerkennen und bin mir ihrer Schwierigkeiten durchaus immer bewusst gewesen. Immerhin ist durch die Verfahren das Unrecht deutlich benannt worden, auch wenn das den Opfern der Diktatur aus verständlichen Gründen nicht ausreicht.

 

Rehabilitation als Herausforderung

 

Das zweite große Thema der juristischen Aufarbeitung ist die Rehabilitierung der Opfer. Noch im letzten Jahr der DDR wurden eine Reihe politisch begründeter Urteile „kassiert“, die Betroffenen somit rehabilitiert. Noch vor der Wiedervereinigung verabschiedete die Volkskammer am 6. September 1990 ein Rehabilitierungsgesetz. Dieses wurde nur teilweise in den Einigungsvertrag übernommen und im November 1992 durch das vom Bundestag beschlossene Rehabilitierungsgesetz (erstes SED-Unrechtsbereinigungsgesetz) ersetzt. Diesem Gesetz, welches die aus politischen Gründen Inhaftierten betraf, folgte 1994 das zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, welches Verwaltungsunrecht und politisch begründete Nachteile in Bildung und Beruf behandelte. Der Bundestag trug so der Tatsache Rechnung, dass politische Repression nicht allein aus Inhaftierungen bestand. Die Fristen zur Antragstellung wurden immer wieder verlängert, so dass im Unterschied zur strafrechtlichen Verfolgung eine Vielzahl von Rehabilitierungsanträgen bearbeitet werden konnte. Ende 2017 waren bereits Entschädigungen von insgesamt etwa zwei Milliarden Euro für zu Unrecht erlittene Haft gezahlt worden. Hinzu kamen etwa 130.000 Fälle, in denen keine Inhaftierung erfolgte, die Betroffenen aber wegen ihrer politischen Überzeugung in Bildung und Berufsausübung behindert wurden. Schwere Benachteiligungen können auf Antrag bei der Rentenfestlegung wenigstens teilweise ausgeglichen werden.

Allerdings sind viele Verfolgungen erst sehr spät vom Gesetzgeber berücksichtigt worden - so als besonders erschütterndes Beispiel etwa die Kinder und Jugendlichen, die unter regelrechten Haftbedingungen in Spezialheimen und Jugendwerkhöfen untergebracht wurden und davon bis heute traumatisiert sind. […]

An dieser Stelle möchte ich ein weiteres Problem benennen, das Richter in besonderem Maße betrifft. Die mit Rehabilitierungsverfahren betrauten Richter kommen meist aus Arbeitszusammenhängen, die mit den von SED-Unrecht Betroffenen wenig zu tun haben. Ihnen fehlt es oft an Verständnis für die anhaltenden Probleme der Opfer und sie wissen manchmal außerordentlich wenig über das kommunistische System, seine Repressionsmethoden und deren Folgen. Der in den vergangenen 30 Jahren erworbene Sachverstand des einzelnen Richters ändert daran wenig, denn mit zunehmendem Zeitabstand verringert sich die allgemeine Kenntnis der Probleme, zumal die mit Rehabilitierungsentscheidungen befassten Kammern einem ständigen personellen Wechsel unterworfen sind und junge Richter nachrücken, deren Kenntnisse erst erworben werden müssen. So beklagen Opferverbände und Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur immer wieder Fehlbewertungen von Lebens- und Verfolgungssituationen, die zur Ablehnung von Rehabilitierungsanträgen führen. In diesem Zusammenhang sei ein Fall geschildert, der inzwischen auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wartet:

Es geht um eine damals 14-Jährige, die unter desolaten Umständen in einem von Gewalt geprägten Haushalt lebte (sexueller Missbrauch seitens des Großvaters, physische Gewalt seitens des Vaters). Das Mädchen ertrug es nicht mehr, flüchtete, wurde eingefangen und in die Psychiatrie gebracht. Ohne Befund entlassen, wurde sie in die Wohnung ihrer Eltern zurückgebracht. Der Vater verkündete, sie totzuschlagen, worauf sie erneut floh. Um sich mit dem Notwendigsten zu versorgen, beging sie kleine Diebstähle von Lebensmitteln. Sie wurde erneut gefasst, hätte vor ein Jugendgericht kommen können, was aber nicht geschah. Vater und Mutter waren nach außen hin brave sozialismustreue Bürger und fürsorgliche Eltern, so die Auffassung des Jugendamtes. Im Ergebnis kam das Mädchen in verschiedene Jugendwerkhöfe.

Ihr heutiger Anspruch auf Rehabilitierung bezieht sich auf die Einweisung in die Jugendwerkhöfe, in denen Kinder gefängnisähnlichen Bedingungen ausgesetzt waren. Wogegen besteht nun die Verfassungsbeschwerde? Ein Landgericht in Thüringen lehnte den Rehabilitierungsantrag ab, ohne die Darlegungen der Antragstellerin zu berücksichtigen, ohne Zeugen einzuvernehmen, ohne Sachverständige zu befragen, ohne den aktuellen Erkenntnisstand zur Situation in den Jugendwerkhöfen zu berücksichtigen. Die Kammer kam zum Ergebnis, dass die Einweisung in die Jugendwerkhöfe mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Ordnung vereinbar sei. Die Kammer betonte, dass sich diese Bewertung aus der Prüfung „sämtlicher Unterlagen des Jugendamtes“ ergeben habe! Eine von der Antragstellerin erfolgte Beschwerde wurde vom Thüringer Oberlandesgericht mit gleicher Begründung abgewiesen. Auch dieses Gericht stützte sich bei seiner Entscheidung ausschließlich auf die Unterlagen des SED-geführten Jugendamtes. Wie ist das möglich? Zur Entscheidung eines Antrags auf Rehabilitierung wegen SED-Unrechts wird als einziges Beweismittel die Auffassung der Behörde zur Kenntnis genommen, die das Jugendlichen angetane Unrecht gutgeheißen und zugleich veranlasst hat. Das ist eine unfassbare Fehlleistung beider Gerichte. An Richter, die derartige Entscheidungen zu treffen haben, kann ich nur appellieren: Hören Sie die Betroffenen an. Befragen sie Zeugen und Sachverständige. Verlassen Sie sich auf keinen Fall auf die offiziellen Unterlagen des SED-Staates.

 

Einige aktuelle Fragen

 

Da ich nun schon einmal die Gelegenheit habe, mich direkt an Richter und Richterinnen zu wenden, möchte ich zum Abschluss im Telegrammstil andeuten, was mich ganz persönlich noch umtreibt und bedrückt: Ich weiß von der notorischen Unterbesetzung der Gerichte, der Staatsanwaltschaften und der Polizei. Ich halte dafür die politisch Verantwortlichen für zuständig, die nichts dagegen unternehmen, ja diesen Zustand verursacht haben. Ich kann nicht akzeptieren, dass mit den kriminellen Dealern im Görlitzer Park so umgegangen wird, als hätte man es mit einer besonders schützenswerten Kultur zu tun. Ich will nicht einsehen, dass ein Richter einen sogenannten Intensivtäter auch beim zehnten Mal in die Freiheit entlässt. Ich kann nicht begreifen, dass selbst ein Schwerkrimineller oder potentieller Terrorist freigelassen wird, weil die U-Haft zu lange dauerte. Ich bin beunruhigt wegen der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft und wegen der widerwärtigen Hasstiraden im Internet. Ich verstehe auch nicht, warum ein Richter im bekannten Fall der Frau Künast solche hasserfüllten Sätze als Ausdruck von Meinungsfreiheit ansieht. Und – um wieder beim DDR-Thema zu landen bzw. den nicht vernachlässigbaren Ost-West-Unterschieden: Was hat die von der SED behauptete, aber nie wirklich stattgefundene Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen, was haben in der DDR nicht nur latent vorhandene Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus mit der heutigen Situation zu tun? Ich bin beunruhigt über die Skepsis oder gar Ablehnung, die dem demokratischen Rechtsstaat entgegenschlagen und hoffe auf Gerichtsentscheidungen, die zu seinem Schutz auf erhebliche Weise beitragen.

 

Gerd Poppe (Bearbeitung Sarah Yacob)