Öffentlichkeit im Sinne des § 169 GVG trotz Kontaktsperren

Der Kollege Benedikt Windau, Richter am Landgericht Oldenburg, gibt mit seinem Blog Juristinnen und Juristen die Möglichkeit, sich über aktuelle Entwicklungen im Zivilprozessrecht zu informieren. Einen in der aktuellen Situation sehr interessanten Artikel veröffentlichen wir mit seiner freundlichen Genehmigung mit geringfügigen Kürzungen. Weitere sehr lesenswerte Artikel finden Sie unter www.zpoblog.de.

Die zum Anfang der Woche in Kraft getretenen sog. „Kontaktsperren“ bringen für die gerichtliche Praxis ein Problem: Wenn es – wie allgemein kommuniziert – verboten ist (oder verboten sein soll?) die Wohnung zu verlassen bzw. sich mit anderen Personen zu treffen (in Bayern ist die Allgemeinverfügung beispielsweise auch als „vorläufige Ausgangsbeschränkung“ überschrieben), können dann Gerichtsverhandlungen gegenwärtig überhaupt noch „öffentlich“ i.S.d. GVG sein?

 

Allgemeines zum Öffentlichkeitsgrundsatz

Der Öffentlichkeitsgrundsatz gem. § 169 GVG bestimmt, dass die Verhandlung einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse öffentlich ist. Öffentlichkeit i.S.d. § 169 GVG meint dabei, dass jedermann die Möglichkeit offenstehen muss, der mündlichen Verhandlung unmittelbar beizuwohnen (s. nur Zöller/Lückemann, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 169 Rn. 2). Der Öffentlichkeitsgrundsatz dient dabei weniger dem Individualschutz der Parteien, sondern vielmehr der Kontrolle staatlicher Machtausübung, der Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit sowie dem Schutz des Vertrauens der Allgemeinheit in die dritte Gewalt (s. nur MüKoZPO/Zimmermann, 5. Aufl. 2017, § 169 GVG Rn. 1).

Der Parteidisposition ist der Öffentlichkeitsgrundsatz deshalb – mit Ausnahme z.B. von § 128 Abs. 2 ZPO – entzogen. § 547 Ziff. 5 ZPO bestimmt entsprechend, dass die Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes ein absoluter Revisionsgrund ist. Das hat zur Folge, dass eine Verletzung auch bei Entscheidungen erster Instanz einen Berufungsgrund darstellt, wobei die Kausalität des Verfahrensfehlers für die angegriffene Entscheidung auch im Berufungsverfahren unwiderlegbar vermutet wird (BGH, Urteil vom 29.03.2000 – VIII ZR 297/98 unter II.1.b). Das Berufungsgericht muss deshalb entweder neu verhandeln oder kann – auf entsprechenden Antrag – gem. § 538 Abs. 2 Ziff. 1 ZPO das Urteil aufheben und die Sache zurückverweisen (s. nur MüKo-ZPO/Zimmermann, 5. Aufl. 2017, § 169 GVG Rn. 65).

Vorschläge, im Sinne eines „gentlemen‘s agreement“ im Wege z.B. einer Videokonferenz per Skype for Business zu „verhandeln“ und ggf. eine Terminsrolle vor dem Dienstzimmer aufzuhängen, sind daher gerade vor dem Hintergrund von § 717 Abs. 2 ZPO nicht ratsam. Sie funktionieren im Übrigen auch nur, wenn beide Parteien/Parteivertreter damit einverstanden sind (das wird gerade auf Passivseite oft nicht der Fall sein), weil das Gericht nach § 128a ZPO niemanden zwingen kann, sich während der mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten. Eine Übertragung als Livestream kommt als Lösung auf Grundlage der gegenwärtigen Rechtslage ohnehin nicht in Betracht, da § 169 Abs. 1 Sätze 3-5, Abs. 2 und 3 GVG insoweit eine abschließende Regelung treffen (vgl. auch § 169 Abs. 1 Satz 2 GVG; Kissel/Mayer/Mayer, GVG, 9. Aufl. 2018, § 169 Rn. 66).

 

Die Regelungen der Länder

Die verschiedenen Regelungen der Bundesländer zur Anordnung von „Kontaktsperren“ (…) sind mit diesen Grundsätzen nur teilweise zu vereinbaren. Sie haben alle gemeinsam, dass sie ein Verlassen der Wohnung bzw. Zusammentreffen mit mehreren, nicht im gleichen Haushalt lebenden Personen im Wesentlichen untersagen. Teilweise sehen die Vorschriften überhaupt keine Ausnahmen bzw. Sonderregelungen für Gerichtsverfahren vor, sondern bestimmen allgemein, dass „Zusammenkünfte und Ansammlungen in der Öffentlichkeit von mehr als 2 Personen“ untersagt sind, ausgenommen insbesondere Familien (…) Soweit die Vorschriften auch die Wahrnehmung von Terminen bei Gericht ausdrücklich ausnehmen, sind sie ebenfalls äußerst unterschiedlich: Berlin ist z.B. sehr streng und bestimmt, dass ein wichtiger Grund, um die Wohnung zu verlassen, „die Wahrnehmung dringend erforderlicher Termine bei Behörden, Gerichten“ ist (§ 14 Abs. 3 lit. n SARS-CoV-2-EindmaßnV [Anmerkung der Redaktion: der Artikel berücksichtigt bereits die am 22. März 2020 in Kraft getretene Änderungsfassung der Verordnung].

Jedenfalls in Berlin, Sachsen und den Bundesländern, die für (Öffentlichkeits-)Besuche bei Gericht keine Ausnahmen vorsehen, erscheint danach zweifelhaft, ob gegenwärtig noch eine Öffentlichkeit i.S.d. § 169 Abs. 1 GVG gewährleistet ist. Zwar spricht manches dafür, die Vorschriften so auszulegen, dass Gerichtsverhandlungen weiter stattfinden können. Dabei scheint eine „verfassungskonforme Auslegung“ schon deshalb schwierig weil zweifelhaft ist, ob der Öffentlichkeitsgrundsatz selbst Verfassungsrang hat (ablehnend BVerfG, Beschluss vom 07.03.1963 – 2 BvR 629 u. 637/62 unter II.2.b; im Beschluss vom 14.03.2012 − 2 BvR 2405/11 Rn. 32 wird er hingegen als „Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips“ bezeichnet).

Unabhängig davon wäre m.E. aber auch zu berücksichtigen, dass schon die Regelungen an sich einen „chilling effect“ bewirken, der den Öffentlichkeitsgrundsatz beeinträchtigt. Denn ohne ausdrückliche Ausnahmen in den Regelungen besteht die konkrete Gefahr, dass eine Ordnungswidrigkeit oder gar eine Straftat (vgl. §§ 73-75 IfSG) begeht, wer zum Zwecke der „Öffentlichkeit“ das Haus verlässt.

Die meisten Bürger dürften vor diesem Hintergrund kein Interesse daran haben, mit kontrollierenden Polizeikräften und ggf. Ordnungsbehörden ein juristisches Proseminar zur „Auslegung der landesrechtlichen Vorschriften vor dem Hintergrund des bundesrechtlichen Öffentlichkeitsgrundsatzes und dessen Bedeutung für das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip“ abzuhalten. Unabhängig davon, ob solche Strafen bzw. Bußgelder tatsächlich verhängt bzw. bestätigt werden, spricht daher viel dafür, dass schon deren Gefahr es verhindert, dass jedermann der Verhandlung so uneingeschränkt beiwohnen kann, wie es § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG verlangt.

 

Auswege

Wenig überzeugend ist die offenbar vom bayerischen Justizminister vertretene Ansicht, es reiche aus, dass Gerichtsreportern und Journalisten eine Teilnahme an Gerichtsverhandlungen weiterhin möglich sei, dadurch werde ebenfalls eine Unterrichtung der Öffentlichkeit sichergestellt. Das ist mit dem allgemeinen Verständnis von Öffentlichkeit, wonach jedermann die Möglichkeit einer Teilnahme haben muss, kaum zu vereinbaren.

Deutlich überzeugender ist der implizite Hinweis auf § 172 Nr. 1a GVG, wonach das Gericht die Öffentlichkeit ausschließen kann, weil eine Gefährdung des Lebens, des Leibes oder der Freiheit eines Zeugen oder einer anderen Person zu besorgen ist. Käme– beispielsweise im einstweiligen Rechtsschutz – eine Vertagung als milderes Mittel zu einem Ausschluss der Öffentlichkeit gem. § 172 Nr. 1a GVG nicht in Betracht, wäre es m.E. in der gegenwärtigen Situation zulässig, die Öffentlichkeit gem. § 172 Nr. 1a GVG auszuschließen. Und wenn das Gericht die Öffentlichkeit ausschließen könnte, muss es auch möglich sein, eine Verhandlung unter faktischem Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen (und auf einen solchen – rein deklaratorischen – Beschluss zu verzichten). Das muss umso mehr gelten, als die Öffentlichkeit momentan nicht völlig ausgeschlossen, sondern nur sehr stark (auf Medienvertreter) beschränkt ist.

Das Ermessen verschiebt sich somit von der Frage des Ausschlusses der Öffentlichkeit hin zur Frage der Durchführung der Verhandlung trotz eines faktischen Ausschlusses bzw. einer Beschränkung der Öffentlichkeit.

Deshalb dürften die Voraussetzungen, die einen Ausschluss der Öffentlichkeit gem. § 172 Nr. 1a GVG rechtfertigen würden und die mithin also auch eine Durchführung der Verhandlung unter faktischem Ausschluss der Öffentlichkeit rechtfertigen, in der Entscheidung sicherheitshalber darzulegen sein. In allen anderen Fällen empfiehlt sich eine Verlegung.

Im Übrigen kann insbesondere vor dem Hintergrund des vorgenannten „chilling effects“ einen Ausweg aus dieser Lage nur der (Bundes-) Gesetzgeber weisen, indem er den Öffentlichkeitsgrundsatz i.S.d. § 169 GVG jedenfalls temporär einschränkt. Eine solche Einschränkung, nach der in bestimmten Zeiträumen Verhandlungen sowie die Verkündung von Entscheidungen auch ohne Öffentlichkeit i.S.d. § 169 GVG stattfinden können, könnte – ebenso wie die Anordnung von „Gerichtsferien“ (s. dazu ausführlich www.zpoblog.de) – unter bestimmten, sehr engen Voraussetzungen den Landesjustizverwaltungen übertragen werden.

Ob eine solche Regelung allerdings zeitnah kommen wird, scheint indes fraglich. Im am 27.03.2020 verkündeten „Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrechts“ (BGBl. I S. 569 ff.) sind noch nicht einmal die von der CDU/CSU-Fraktion geforderten „Gerichtsferien“ enthalten.

Es spricht daher viel dafür, dass die Gerichte auch die sich aus dem Öffentlichkeitsgrundsatz ergebenden Probleme allein werden lösen müssen.

 

…ceterum censeo: kein Stillstand der Rechtspflege

Und zuletzt (s. auch schon www.zpoblog.de): Auch wenn man annimmt, dass Verhandlungen momentan nicht öffentlich stattfinden können, bewirkt dies keinen „Stillstand der Rechtspflege“ i.S.d. § 245 ZPO. Denn die Vorschrift ist nach einhelliger Ansicht eng auszulegen (s. ausf. www.zpoblog.de). Und an allen Gerichten ist ein Bereitschaftsdienst eingerichtet, der in besonders eiligen Fällen Rechtsschutz gewähren kann – und zwar auf Wegen, die keine mündliche Verhandlung erfordern (vgl. § 937 Abs. 2 bzw. §§ 936, 924 Abs. 3, 707 ZPO).

 

Benedikt Windau, www.zpoblog.de

 

Anmerkung der Redaktion: Das OVG Berlin-Brandenburg hat mit Beschluss vom 23.03.2020 (OVG 11 S 12/20 – juris Rn 12) über die den Regelungen in Berlin weitgehend entsprechenden Ausgangsbeschränkungen im Land Brandenburg entschieden und deren Rechtmäßigkeit bejaht. Es hat zugleich ausgeführt, dass durch die Regelungen auch die Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen gewahrt seien, soweit diese trotz des gegenwärtigen Infektionsrisikos überhaupt noch stattfänden.