Mit Kopftuch im Namen des Volkes?

Zwischen Neutralität und Glaubensfreiheit

In Deutschland gibt es verschiedene Regelungen, die das Tragen religiös geprägter Kleidungsstücke im Staatsdienst einschränken – am deutlichsten trifft das derzeit kopftuchtragende Juristinnen. Zwei Mitglieder des DRB Berlin diskutieren, ob sich daran etwas ändern sollte.

Im schulischen Bereich hat das BVerfG entschieden, dass pauschale Verbote unzulässig sind (sog. „zweites Kopftuchurteil“, Beschl. v. 27. Januar 2015 – 1 BvR 471/10). Vor diesem Hintergrund hat sich die Berliner Regierungsfraktion in diesem Jahr darauf geeinigt, das sog. Neutralitätsgesetz (Gesetz zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin vom 27. Januar 2005) zu reformieren. Das dort für Lehrkräfte festgehaltene pauschale Verbot des Tragens auffallend religiös oder weltanschaulich geprägter Kleidungsstücke wird entsprechend höchstrichterlichen Vorgaben aufgehoben. Ein Verbot soll demnach allenfalls in Betracht kommen, wenn aufgrund nachweisbarer Tatsachen eine konkrete Gefährdung oder Störung des Schulfriedens vorliegt. In der Praxis handhabt die Schulverwaltung dies bereits entsprechend (sodass bspw. muslimische Lehrerinnen ein Kopftuch tragen dürfen).

„Es ist ein rechtspolitisches Thema – keine juristische Zwangsläufigkeit.“

Daniel: Also ich denke, es ist ein rechtspolitisches Thema, was für den DRB Berlin relevant ist. Im sog „Dritten Kopftuchurteil“ des BVerfG bzgl. einer Rechtsreferendarin kommt m. E. zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber Spielraum hat, wie das Spannungsverhältnis zwischen den betroffenen Rechtsgütern aufgelöst wird (einerseits: Glaubensfreiheit, Zugang zu öffentlichen Ämtern unabhängig vom religiösen Bekenntnis, andererseits: Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates, der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und mögliche Kollisionen mit negativer Religionsfreiheit Dritter). Man kann das Tragen religiöser Symbole untersagen, muss es aber nicht. D. h. es ist eine rechtspolitische Frage. Und da sie unmittelbar die Justizbediensteten betrifft, und zwar potenziell erheblich (Job ja oder nein), ist die Frage ja auch nicht ganz unwichtig.

Stefan: Mir ist die nach außen gezeigte Neutralität der Justiz im Gerichtssaal besonders wichtig. Nach meiner Auffassung sollten wir daher derzeit keine Diskussion um eine Lockerung anstoßen.

Daniel: Die gezeigte Neutralität „der Justiz“ ist auch mir sehr wichtig. Deswegen ist es m. E. ein No-Go, dass die Institution „Justiz“ als solche entsprechende Symbole „trägt“ (z. B. Bibelvers im Gerichtssaal). Aber bei persönlichen Kleidungsstücken gibt es ja einen wesentlichen Unterschied, den auch das BVerfG festhält: Wenn der Staat das Kopftuchtragen bspw. einer einzelnen Staatsbediensteten hinnimmt, macht er sich die verbundene religiöse Aussage damit noch nicht zu eigen. So ähnlich wie das Tragen des Eherings durch einen Richter oder Staatsanwalt – auch hier macht sich der Staat die damit persönlich verbundene Aussage nicht zu eigen.

Stefan: Das ist für mich etwas anderes. Denn ein Ehering verkörpert nicht im gleichen Maße wie ein religiöses Symbol moralische und rechtliche Werte. Die Trägerin oder der Träger eines religiösen Symbols zeigt doch aber gerade plakativ, dass sie oder er sich die jeweiligen Werte zu eigen macht. Und Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sind der Staat, wenn sie anklagen, ebenso Richterinnen und Richter, wenn sie urteilen.

Daniel: Mir ging es beim Beispiel Ehering um folgende Verdeutlichung: Niemand kommt auf die Idee, dass sich der Staat die einhergehende (u. a. moralische?) Aussage des Trägers zu eigen macht. Es ist etwas sehr Persönliches. Genauso wenig wäre es m. E. beim Kopftuch der Fall, weil es ein persönliches Symbol ist – anders als der beispielhafte Bibelvers im Verhandlungssaal.

„Für mich sind Kopftuch oder Kippa nicht nur ein Kleidungsstück.“

Stefan: Für mich sind Kopftuch oder Kippa nicht nur ein Kleidungsstück oder persönliches Symbol, wie ein Haarschmuck oder ein Tattoo. Ich halte die Zuordnung zum staatlichen Handeln nicht für abwegig. Wir tragen die Amtstracht ja gerade, damit das Individuum hinter dem Amt zurücktritt, weil wir als Staat agieren. Sind Richter und Staatsanwälte für Dich nicht der Staat, sondern Individuen in Robe?

Daniel: Klar sind Richter der Staat, wenn sie urteilen. Aber das können sie doch auch dann sein, wenn sie (persönlich) religiös sind, das ist doch genau die Kernaussage von Art. 33 Abs. 3 GG. Mit dem Überstreifen der Robe signalisieren sie dann noch einmal: Jetzt trete ich als Person zurück, aber klar, sie bleiben ja Individuum, auch in Robe. Mich würde einmal interessieren: Denkst Du, dass religiöse, vielleicht sogar sehr religiöse Menschen auf der Richterbank oder als Staatsanwalt
problematisch sind?

Stefan: Ich halte religiöse Kollegen überhaupt nicht für problematisch. Auch ich bin dafür, dass die Justiz so bunt ist bzw. wird wie unsere Stadt, dass die Justiz als offen und tolerant wahrgenommen wird und wir in der Kollegenschaft über Lösungen aus verschiedenen (Herkunfts-)Blickwinkeln streiten. Dazu gehören auch Kolleginnen und Kollegen mit festen religiösen Überzeugungen. Wichtig ist mir jedoch, dass wir zeigen, nur Recht und Gesetz und nicht privaten religiösen Maßstäben zu folgen.

Daniel: Dann also doch keine religiösen Richter zulassen? Denn religiöse Menschen wären ja für die Gefahr, dass sie religiösen Maßstäben folgen, besonders anfällig, vermute ich.

Stefan: Nein, sie sollen es nur nicht im Amt zeigen. Jeder von uns ist natürlich das Produkt seiner Erziehung, Wertvorstellungen und Wünsche, das beeinflusst jede und jeden bei den Entscheidungen. Wir müssen meines Erachtens aber bereit sein, das uns wichtige Symbol für die Arbeit im Gerichtssaal abzulegen.

„Wir sagen: Du darfst religiös sein – aber bitte unsichtbar.“

Daniel: Aber dann ist doch nicht viel gewonnen, denn in vielen Religionen ist es ja vereinbar, sehr religiös zu sein und nicht durchweg auch ein entsprechendes Erkennungszeichen zu tragen. Erst recht bei starken weltanschaulichen Überzeugungen ist dies nicht erforderlich.

Ich denke, rechtsstaatlich ist eine Lockerung des Verbots doch eher ein Gewinn. Wenn wir schon (ggfs. sehr) gläubige Richter zulassen (müssen, vgl. Art. 33 GG), dann doch lieber welche, die das auch offen zeigen. So kann man dann z. B. einen Befangenheitsantrag stellen, wenn es in der Sache auf die Weltanschauung oder Religion ankommt. Ich frage mich immer mehr: Wenn wir (verfassungstreuen und hochqualifizierten) Juristinnen den Justizdienst verweigern, solange sie ein Kleidungsstück nicht abnehmen, ist das nicht die eigentliche Symbolik? Wir sagen: Ihr seid super geeignet, wir würden euch als Richter einstellen. Auch eure Religiosität, absolut kein Problem, sogar vom Grundgesetz geschützt! Aber: Eine Sache, dieses Kleidungsstück, ihr müsst es abnehmen. Diesen Akt brauchen wir, innerlich könnt ihr so religiös bleiben, wir ihr wollt!

Stefan: Es geht nicht darum, gläubigen Juristinnen und Juristen den Zugang zur Justiz und damit den Beruf zu verwehren. Es geht darum, dass sie bereit sein müssen, ihre religiösen Symbole im Gerichtssaal abzulegen – und eben nicht nur irgendwelche belanglosen Kleidungsstücke. Es darf meiner Ansicht nach kein Anschein entstehen, ihre religiösen Maßstäbe würden ihnen mehr bedeuten als die nach außen zu zeigende Neutralität. Und ja, dies ist eine mir wichtige Symbolik. Für dich ist hingegen das Verbot die Symbolik. Wir müssen aber auch an diejenigen denken, die mit dem Zeigen religiöser Symbole nicht Toleranz, sondern negative Assoziationen, z. B. Unterdrückung, verbinden, und die sich von unserer pluralistischer werdenden Gesellschaft überfordert fühlen.

Daniel: Wenn Du sagst: Es darf kein Anschein entstehen, die religiösen Maßstäbe würden der Richterin mehr bedeuten als die nach außen zu zeigende Neutralität: Wieso würde dieser Anschein entstehen, wenn kein Verbot bestünde? Sie würde sich ja über nichts hinwegsetzen.

 

Stefan: Warte, das verkehrt doch Ursache und Wirkung. Wer aus Glaubensgründen seine persönlich verbindlichen Kleidervorschriften für die Arbeit im Gerichtssaal schon heute nicht ablegen kann, kann doch auch nach Aufgabe der „Kleiderneutralität“ die Assoziation wecken, er könnte religiöse Maßstäbe höher gewichten.

„In Bayern hängen schon immer Kruzifixe im Gerichtssaal. Das hat die meisten nicht gestört.“

Daniel: Du hast negative Assoziationen wie Unterdrückung oder ein Gefühl der Überforderung im Zusammenhang mit einer pluralistischer werdenden Gesellschaft angesprochen. Ich denke, ohne die Debatte hierzu kann man über das Thema nicht ehrlich diskutieren: Weil religiöse Richter ja nach dem Grundgesetz ausdrücklich erlaubt sind, geht die Argumentation also dahin: Sie sollen es nur nicht zeigen. Stichwort „Konfrontationsschutz“. U. a. wegen bestimmter Assoziationen. Ich frage mich, ob es hier nicht einen Elefanten im Raum gibt. Meine Vermutung ist, dass die „Erkennbarkeit persönlicher Religiosität“ (bei Staatsdienern) nie ein großes Problem war in Deutschland, und das starke Befürworten von Kleidungsverboten eben v. a. etwas gerade mit dem muslimischen Glauben – bzw. genauer: antimuslimischen Vorurteilen – zu tun hat, und das eben erst in den letzten Jahrzehnten ein Thema geworden ist, als Kopftuchträgerinnen sich für Staats- bzw. Lehrämter vermehrt qualifiziert haben. Ich meine: In Bayern dürfen und durften schon immer Kruzifixe im Gerichtssaal (sogar, m. E. viel krasser, in den Schulen) hängen. Die meisten hat das überwiegend nicht gestört, obwohl die Neutralitätsverletzung m. E. viel größer ist, weil ja hier die Institution als solche religiöse Symbole trägt. Oder unseren Amtseid, hier dürfen und durften wir schon immer – öffentlich – schwören: „So wahr mir Gott helfe“, was die Verbotsbefürworter eigentlich mehr stören müsste als ein stilles Kopftuch, da sich der Schwur ja gerade ausdrücklich auf die Amtsführung bezieht. Ich will diese Sachen nicht abschaffen, aber vielleicht sollten wir uns einmal fragen, ob dieser Konfrontationsschutz uns wirklich abstrakt so wichtig ist, oder eher, seitdem es um muslimische Symbole geht.

Und dann steht m. E. eben schnell im Raum, dass wir hier nur aus Rücksicht auf Vorurteile Menschen den Staatsdienst verschließen. Wir müssen uns ja immer vergegenwärtigen: Wir reden hier über die Situation, dass hochqualifizierten und natürlich verfassungstreuen Juristen – andernfalls könnten sie sich ja sowieso nicht qualifizieren – der Dienst verschlossen bleibt.

„Wir brauchen keine Symbolik, um Toleranz zu zeigen.“

Stefan: Ich unterscheide nicht zwischen Kopftuch, Kippa, Kreuz oder anderen religiösen Symbolen. Dein unterschwelliger Vorwurf ist typisch für die Diskussion, aber er gehört zum Thema. Mir geht es auch nicht um den Schutz etwaiger Vorurteile oder ein „In-Watte-Packen“, sondern um den Erhalt von äußerer Neutralität und auch um einen Konfliktschutz für die Justiz. Gerade bei Zulassung des Kopftuchs würde man uns vorwerfen, die Justiz sei eingeknickt vor einer patriarchalischen Strömung in unserer Gesellschaft, welche die Gleichheit von Mann und Frau nicht respektiert. Das hat nichts mit Vorurteilen zu tun.

Ich habe das Gefühl, dir geht es selbst um Symbolik, jene nämlich, plakative Toleranz gegenüber Minderheiten zu zeigen. Für eine tolerante und diverse Justiz brauchen wir aber diese Symbolik nicht. Der Konflikt wäre gerade nicht gelöst, denn wir würden uns eine Vielzahl von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in die Gerichtsverhandlung holen. Aber warte, wir beginnen uns Vorwürfe zu machen, das sollte nicht sein. Ich möchte noch etwas fragen: Wünschst Du Dir denn mehr religiöse Richter und Staatsanwältinnen?

„Die Diskussion gehört in die Kollegenschaft – nicht unter den Teppich.“

Daniel: Das kann ich so nicht sagen. Ehrlicherweise wohl nicht unbedingt. Ich habe keinen Zugang zu Religion, und es ist mir auch etwas suspekt, obgleich sich oft viel als Vorurteil herausstellt. Ich kann persönlich natürlich auch nicht nachvollziehen, warum jemand ein Kopftuch als verbindlich empfindet. Aber was ich insofern denke, ist ja irrelevant. Wir haben die Religionsfreiheit, und es ist ja gut, dass die Grundrechte so gelten, unabhängig, ob jeder oder sogar die meisten im Einzelfall mit dem Ausleben durch Andere etwas anfangen können. Und eine diverse und repräsentative Justiz – das halte ich für wichtig, wenngleich das Kopftuchverbot hierfür sicherlich nur ein Thema von ganz vielen ist.

Stefan: Denkst Du denn, eine Lockerung hätte überhaupt praktisch große Auswirkungen? Würden sich dann mehr religiöse Juristinnen und Juristen bewerben?

Daniel: Ganz schwer zu sagen. Ich kenne nur ein paar offen muslimische Juristinnen, wenige davon mit Kopftuch. Die Frage ist ja, wie viele von diesen überhaupt sich dann qualifizieren und v. a. zu uns wollen würden.

Stefan: Gegen eine Diskussion um eine Lockerung möchte ich noch anführen, dass ich diese als Streitpunkt eines hoch emotionalen Kulturkampfes in unserer Gesellschaft empfinde – wir mussten uns ja eben auch zügeln. Die Justiz bzw. der DRB Berlin sollte in diesem nicht mitmischen, einfach um keine Angriffsfläche für den Vorwurf zu bieten, man sei politisch nicht neutral. Und das meine ich nicht aus konservativer Veränderungsangst, sondern bewusst als Zeichen der mir wichtigen Neutralität.

Daniel: Das kann ich auch verstehen. Es ist wohl ein Thema, bei dem man als Verband auch strategisch überlegt. Ich denke, wenn wir das als Verband mehrheitlich so für richtig halten, sollten wir es vertreten. Das zeichnet uns als Richterschaft doch gerade aus, Positionen können unpopulär sein, wenn sie richtig sind. Ich denke, es geht allein darum, ob wir im DRB Berlin, der ja binnendemokratisch organisiert ist, für diese Position eine Mehrheit haben. Insofern hatte mein Vorschlag, hier eine Prüfbitte an den Senat zu formulieren, ja gerade keine Mehrheit im Vorstand gefunden. Damit hätte ich das Thema ruhen lassen, Du hattest dann die Idee, dass wir die Diskussion offenlegen.

Stefan: Ich war verblüfft über Deine Anregung, die ich im ersten Moment – bitte entschuldige – abwegig fand. Aber die Diskussion zwischen uns hat mir gezeigt, dass es sich um ein aktuelles gesellschaftliches Thema handelt, welches wir in der Kollegenschaft diskutieren sollten. Wir kennen hierzu nur die Stimmen aus dem Vorstand und vielleicht die unserer unmittelbaren Kolleginnen und Kollegen. Deshalb kam im Vorstand auch die Idee auf, die Mitglieder zu fragen.

Dr. Daniel Holznagel

Dr. Stefan Schifferdecker