Im Jahr 2024 war es wieder Zeit für eine Studienreise des Sozialgerichts Berlin. Diesmal ging es nach Luxemburg.
Im Jahr 2024 war es wieder Zeit für eine Studienreise des Sozialgerichts Berlin. Diesmal ging es nach Luxemburg.
Die Studienreise führte vom 5. bis zum 8. Oktober 2024 nach Luxemburg. Ein Teilnehmer berichtet.
Wer fliegen wollte, konnte auf eine direkte Verbindung zurückgreifen, musste aber recht früh aufstehen. Als der Flughafenbus nach einer längeren Fahrt über das Rollfeld vor der Maschine der Luxair hielt, wurden bei einigen aus der Reisegruppe Erinnerungen an die letzte Studienreise wach. Dort stand nämlich eine sog. Dash 8, ein Turboprop-Flugzeug, das durchaus Potential für technische Defekte hat. Dieses Flugzeug allerdings funktionierte störungsfrei und brachte einen großen Teil der Reisegruppe in einer guten Stunde nach Luxemburg. Diejenigen, die von unterschiedlichen Orten aus mit der Bahn anreisten, hatten alle etwas zu erzählen und zu posten, beispielsweise, dass manche von ihnen in Nordrhein-Westfalen vor einem Jobcenter gestrandet waren.
Durch die frühe Anreise stand den Flugreisenden der gesamte Samstag für eine erste Besichtigung der Stadt zur Verfügung. Erst abends trafen wir uns in einem Restaurant zum gemeinsamen Abendessen. Dieses Restaurant konnte durch einen beachtlichen administrativen Aufwand beeindrucken. So hielt es das Personal für erforderlich, die Gäste mit nummerierten farbigen Bändchen, die an den Handgelenken angebracht waren, zu kennzeichnen, um die Bestellungen richtig erfassen zu können.
Am Sonntag nahmen die meisten an einer in Gruppen durchgeführten Stadtführung teil. Der eine Stadtführer hatte zwar viel zu erzählen, wich aber insofern vom Pfad der Tugend ab, als er sich doch sehr dezidiert auch zu religiösen Fragen äußerte. Dafür führte er seine Gäste aber in das anscheinend für solche Gruppen unentgeltliche Stadtmuseum, was angesichts der sehr frostigen Temperaturen seine beste Aktion war.
Nach einem mit individuellen Besichtigungen verbrachten Sonntagnachmittag begann am Montag das offizielle Programm, das uns zunächst in die Cité judiciaire, die Justizstadt, führte. Sie befindet sich am südlichen Ende der Altstadt, auf einem Felsen hoch über dem über dem Tal der Alzette. Im Jahr 2008 fertiggestellt, beherbergt sie die meisten der in der Stadt ansässigen Gerichte und Staatsanwaltschaften. Wer die Gebäude sieht, mag gar nicht glauben, dass es keine Baudenkmale, sondern Neubauten sind. Aber sowohl die Öffentlichkeit in Luxemburg als auch die UNESCO forderten eine harmonische Einbettung der Bauten in die historische Umgebung. Durch viele Verzierungen an den Fassaden wird der Eindruck vergangener Zeiten erzeugt. Begleitet von einem sehr freundlichen Pressesprecher der Justiz konnten wir am Vormittag verschiedene Verhandlungen eines Gerichts, das einem Amtsgericht entspricht, verfolgen. Verhandelt wurden dort Verkehrsstrafsachen, insbesondere Trunkenheitsfahrten. Auffällig für deutsche Beobachter war zunächst die eher passive Rolle der Staatsanwaltschaft, denn deren Sitzungsvertreter verlas keinen Anklagesatz. Originell mutet die Rechtsfolgenbemessung an. Wie wir erfahren haben, wird die Blutalkoholkonzentration (BAK) der Verurteilten in die Dauer des Fahrverbotes umgerechnet, so dass einer der dort Angeklagten für seine Fahrt mit einer BAK von 2,7 Promille ein Fahrverbot von 27 Monaten zu erwarten hatte. Anders als man bei einem wohlhabenden Land wie Luxemburg erwarten konnte, waren die Sitzungssäle nicht mit hochwertiger Computertechnik ausgestattet. Die Justiz in Luxemburg arbeitet nämlich noch nicht mit elektronischen Akten. Nach dem Sitzungsbesuch gab uns der Pressesprecher noch einen Überblick über die Justiz von Luxemburg, die sich stark an Frankreich anlehnt. Die meisten Luxemburger/innen, die Jura studieren möchten, besuchen eine französische Universität. Nach dem Abschluss durchlaufen sie eine praktische Ausbildung, mehrstufige Auswahlverfahren und eine Probezeit bis sie ernannt werden. Im Jahr 2023 umfasste der höhere Justizdienst 283 Personen, davon mehr als zwei Drittel Frauen. Luxemburg ist ein multikulturelles Land. Auch wenn die Justiz stark französisch geprägt ist, so ist Französisch doch nur die wichtigste und nicht die einzige Sprache der Justiz. Verhandlungen werden auch auf Deutsch und Letzebuergesch geführt, so dass die Richterinnen und Richter auch diese Sprachen beherrschen müssen.
Luxemburg verfügt auch über eine der Sozialgerichtsbarkeit entsprechende Gerichtsbarkeit, in der Entscheidungen verschiedener Versicherungsträger auf den Gebieten Krankenversicherung, Rentenversicherung Unfallversicherung sowie Pflegeversicherung und Familienleistungen angefochten werden können, nachdem wie in Deutschland ein Widerspruchsverfahren durchlaufen worden ist. In erster Instanz zuständig ist das Schiedsgericht der Sozialversicherung (Conseil arbritral de la sécurité sociale - CASS). Übersteigt der Streitwert 1250 € kann Berufung vor dem Obersten Schiedsgericht der Sozialversicherung (Conseil superieur de la sécurité sociale - CSSS) eingelegt werden. In beiden Instanzen besteht kein Anwaltszwang. Dieses dem Landessozialgericht (LSG) entsprechende Gericht bearbeitet pro Jahr ca. 300 Sachen, Eingänge wie Erledigungen. Ein Spruchkörper besteht wie in Deutschland aus drei Berufsrichter/innen und zwei ehrenamtlichen Richter/innen. Eine Kammer dieses Gerichts nahm sich der Gruppe mit viel Engagement an und führte ausführlich in die am Nachmittag zu verhandelnden Sachen ein, insbesondere die Sache eines in Luxemburg arbeitenden Deutschen, der einen Arbeitsunfall erlitten hatte und gegen den entsprechenden Träger der Unfallversicherung klagte. In dem Verfahren waren vier Streitgegenstände verbunden. In der auf Deutsch geführten Verhandlung, die wie Deutschland mit dem Sachbericht des Berichterstatters (monsieur le rapporteuer; es war auch ein Mann) beginnt, ergab sich, dass die Beklagte mehrere der geltend gemachten Ansprüche für berechtigt hielt. Eine zumindest teilweise unstreitige Erledigung ist nach der Prozessordnung allerdings nicht vorgesehen doch ist es dem Gericht erlaubt, hinsichtlich dieser Fragen das Urteil noch kürzer zu fassen, als es der französischen Tradition ohnehin entspricht.
Was wäre eine Reise nach Luxemburg ohne einen Besuch desjenigen Gerichts, mit dem es hinsichtlich der Zahl der seiner Rechtsprechung unterworfenen Menschen kaum ein anderes Gericht aufnehmen kann, dem europäischen Gerichtshof (EuGH). Das Gericht liegt außerhalb der Altstadt im modernen Stadtteil Kirchberg. Während die übrige luxemburgische Justiz überschaubar ist, beeindruckt dort alles durch riesige Dimensionen. Eine Begegnung mit einem Mitglied des Gerichtshofes fand nicht statt, dafür referierten verschiedene deutsche Juristen, die in unterschiedlichen Organisationseinheiten tätig sind, über die Arbeitsweise im allgemeinen und ihre Tätigkeiten im Besonderen. Auch der EuGH steht in der französischen Rechtstradition, weshalb deutsche Jurist/innen dort weniger stark vertreten sind, als ihre Kolleg/innen aus Frankreich oder Belgien. Allerdings ist Französisch auch dort nur die wichtigste, aber keineswegs die einzige Sprache. Da die Mitglieder des Gerichtshofes ja sehr unterschiedliche Sprachen sprechen, muss umfangreich übersetzt werden, weshalb der Übersetzungsdienst ca. 1000 Mitarbeiter/innen hat. Dem Kabinett eines Richters/einer Richterin sind vier Mitarbeiter/innen zugeordnet, deren Tätigkeit am EuGH nach dem so genannten Pharaonenprinzip an die richterliche Amtszeit gekoppelt ist. Ist diese abgelaufen, können diejenigen, die an einer weiteren Tätigkeit in Luxemburg Interesse haben, sich auch neue Aufgaben suchen. Zum Abschluss wurden wir noch durch das in jeder Hinsicht sehr eindrucksvolle Gebäude geführt, bei dessen Errichtung Kosten anscheinend keine große Rolle spielten. Die Sitzungssäle nicht nur technisch aufwendig ausgestattet, z. B. mit Kabinen für Dolmetscher/innen. Vor allem sind sie anspruchsvoll künstlerisch gestaltet.
Die Stadt Luxemburg liegt auf einem Felsen, der von Tälern umgeben ist. Das war früher für die Verteidigung von Vorteil. So gibt es eine Reihe von unterirdischen Gängen, sogenannten Kasematten. Eine der dieser Anlagen besuchten wir zum Abschluss, nämlich die Bock-Kasematten, die die UNESCO in die Liste der Weltkulturerbestätten aufgenommen hat. In zwei Gruppen von zwar schon etwas älteren aber noch sehr vitalen und temperamentvollen Führer/innen, denen die Zuneigung zu ihrer Stadt anzumerken war, geführt, besuchten wir die eindrucksvollen Gänge und konnten verschiedene Teile der Stadt noch einmal aus einer anderen Perspektive betrachten.
Damit war das Ende der erlebnisreichen Reise erreicht. Mit dem kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr kamen alle sicher zum Flughafen bzw. Bahnhof und konnten ohne weitere Abenteuer zurückkehren.
Dr. Volker Nowosadtko